Mehr als menschliche Welt
Tarnung als queere Praxis
C in M, circa 2007
Während ich auf vielen Ebenen versuche, die inzwischen kaum noch sichtbaren militärischen Wurzeln von so vielen Elementen unserer Alltagskultur zu erkennen (von Redewendungen über Arbeitsmoral, über die riesigen Punkte wissenschaftliche Forschung und technische Erfindungen bis hin zum Schnitt unserer Kleider), stoße ich auch auf Themen, die inzwischen hauptsächlich in militärischen Kontexten auftauchen, aber eigentlich viel ältere Wurzeln haben. Und ich frage mich oder beobachte, wie und ob aus diesen Wurzeln auch ganz andere Sachen wachsen können.
Dazu gehört Tarnkleidung, und der Gedanke von Tarnkleidung als Drag, als eine Praxis zum Fühlen, Verbinden, Spielen, Dazugehören.
siehe WikipediaObwohl wir Tarnkleidung inzwischen so stark mit dem Militär verbinden, ist ihre militärische Nutzung eine vergleichsweise neue Erfindung und entstand im Zusammenhang mit der Kolonialisierung, da die auffälligen bunten Uniformen der früheren europäischen Soldaten in den Tropen wohl nicht so recht funktionierten. Tatsächliche, ausgeklügelte Tarnmuster wurden weltweit erst nach dem Ersten Weltkrieg für Uniformen verwendet, allen voran das anscheinend berühmte „Platanenmuster – Herbstfarbe“ der deutschen Waffen-SS.
Fundstück, Quelle unbekannt
„I very well remember at the beginning of the war being with Picasso on the boulevard Raspail when the first camouflaged truck passed. It was at night, we had heard of camouflage but we had not seen it and Picasso amazed looked at it and then cried out, yes it is we who made it, that is cubism.“ – Gertrude Stein in ihrem Buch über Picasso Tarnung als solche ist aber natürlich sehr viel älter, deutlich vielschichtiger in ihrer Bedeutung und überhaupt nicht menschenzentrisch – wir haben uns das Tarnen ja vermutlich von den nicht-menschlichen Tieren abgeschaut, und es vermutlich nicht zuallererst in dem Versuch verwendet, uns gegenseitig zu töten (siehe auch die Beutel versus die Speere in Le Guins Tragetaschentheorie der Fiktion).
Tarnung bekommt in queeren Kontexten eine nochmals ganz andere Bedeutung, und stellt Fragen nach Zugehörigkeit zur menschlichen und zur nicht-menschlichen Welt, nach dem sich-auflösen, nach dem aufgenommen-werden, nach der Sichtbarkeit und der Unsichtbarkeit:
aus diesem Post von So Sinopoulos-Lloyd
Queering camouflage; a bit of a redundant statement since camouflage is already an act of shapeshifting, a “weirding” of personhood itself. Because what is camouflage if not other-than-human drag? What is it if not an icon of the fugitive and the cryptic? What is it if not a mystical ritual of transcendence-with-the-body and not transcendence-from-the-body? We “pass” as other-than-human: moss, bark, leaves, landscapes. & Even before any pigment is applied, camouflage begins in the mind — we apprentice to the ecologies of attention that etch across every place inhabited by life; we find the “portals”, the places where animal others tend not to look. We rest there, we sink into the land there, we learn there. (…) we ask ourselves what it is like to choose to be invisible as a sovereign act — as opposed to being invisibilized or hypervisibilized against our will. Here lies the power of the marginal — and it’s not just a status imposed on us by society, it’s a place on the land — the shadow-shrouded, the edges and the underneaths. For a moment, we feel what it must be like if the earth had eyes. We are her eyes, but she looks through the eyes of many more, the creepers and the crawlers, the stealthy and the hidden. We touch this underworld of awareness, briefly, fleetingly, and we are seduced by a solidarity beyond words.
Und hier nochmals So Sinopoulos-Lloyd:
aus dem Essay Tracking as a Way of Knowing
If the intention is not to leave but to enter, not to hide but to belong, relationship with the non-human brings back deep value to human community and enriches culture.
aus dem Video zu Les animaux sauvages von INFECTICIDE
siehe auch Dazzle Camouflage
Der Radius meiner Gedanken
Ich liste auf, worüber ich an einem Tag nachdenke, oder wenn ich nachts wach liege. Welche Themen beschäftigen mich?
Dann teile ich diese Themen in folgende Kategorien ein:
- Betreffen mich und meinen Körper
- Betreffen die Beziehungen zwischen mir und den Menschen direkt um mich
- Betreffen Menschen und nicht-menschliche Lebewesen, die ich persönlich kenne
- Betreffen Menschen und nicht-menschliche Lebewesen, die ich nicht kenne
- Betreffen abstrakte Konzepte, Strukturen und Systeme
Diese Übung habe ich (so ähnlich) in meiner Grundschule in den USA während der Umweltprojektwochen kennengelernt, und sie ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Zusammen mit dem Schock der Erkenntnis, wie oft ich in Gedanken im kleinsten Radius unterwegs bin.
Begriffen habe ich inzwischen aber auch, dass die abstrakten Konzepte, Strukturen und Systeme in ihren unterdrückenden Tendenzen, in der Ungleichheit, die sie schaffen, eben auch ganz starke Auswirkungen auf Einzelmenschen und ihre Körper haben, auf ihre Möglichkeiten, gesunde und stabile Beziehungen zu sich und ihren Körpern zu führen.
siehe auch Spiritualität
Spiritualität
Brené Brown (die ich nicht mögen will, aber ab und an Sachen schreibt, die mich treffen) in Braving the WildernessDie erste Definition von Spiritualität, mit der ich etwas anfangen kann, beziehungsweise in der ich erkennen kann, wie und warum mich das betrifft: Spirituality is recognizing and celebrating that we are all inextricably connected to each other by a power greater than all of us, and that our connection to that power and to one another is grounded in love and compassion.
Spirituelle Praxis bei ihr gedacht als eine Praxis, die mich mit den Freuden und Schmerzen einer größeren, nicht von mir bestimmbaren, Gruppe an Menschen verknüpft. Die mir also diese untrennbare Verknüpfung zu anderen Menschen, zur Menschheit in irgendeiner Form, vorleben würde. Und es ist ja im Gegenteil so, dass ich mich scheue wie noch was vor großen Konzerten und Stadien und Gruppenveranstaltungen jeder Art. Am nächsten komme ich dem bei Aufgüssen in der Sauna.
Ist die Spiritualität nicht eigentlich noch viel weiter, eine untrennbare Verknüpfung zwischen allen Lebewesen, nicht wieder nur dieses menschenzentrierte Ding? Bedeutet das nicht, dass ich genauso meine untrennbare Verbindung zum Stein fühle wie zum Star wie zur Wolke wie zum Nachbar dem Rocker? Und das ändert natürlich nichts daran, dass ich wenig Erlebnisse habe, in denen ich Freude und Leid mit anderen, nicht von mir ausgesuchten, Menschen teile. Öfter teile ich Freude und Leid mit einer Gruppe Wolken.
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Menschen, die bereits eine einschneidende Instrumentalisierung von Gruppengefühlen erlebt haben (zum Beispiel Diktaturen), haben oft nochmal eine ganz andere und sehr verständliche Form von Mißtrauen gegenüber Gruppengefühlen.
Die Kultur des Kapitalismus instrumentalisiert natürlich auch Gruppengefühle, auf ganz unschuldige, nette Art, na klar.
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Hobbies als Verbindungsmomente, als kleine unauffällige Bühnen für Spiritualität, die Menschen zusammenbringen, die sonst vielleicht wenig Schnittmengen haben.
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bell hooks in diesem Interview
So, every day, I’m challenging myself, “What are you doing, bell, for the creation of the beloved community?” Because that’s the underground, local, insistence that I be a fundamental part of the world that I’m in. I’ve been to the Farmer’s Market, I’ve been to the church bazaar this morning. I really push myself to relate to people, that is, people that I might not feel as comfortable relating to. There are many Kentucky hillbilly white persons who look at me with contempt. They cannot turn me around.
und:
Buddhism continues to inspire me because there is such an emphasis on practice. What are you doing? Right livelihood, right action …. It is the discipline that comes from spiritual practice that is the foundation of my life. If we talk about what a disciplined writer I have been and hope to continue to be, that discipline starts with a spiritual practice. It’s just every day, every day, every day.
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Eine weitere Definition von Spiritualität, mit der ich etwas anfangen kann: Shawn Wilson in Research is Ceremony: Researching within an Indigenous Paradigm The recognition that every thing in the world has spirit, not only people but also knowledge and rain and plants and stones, and I base my actions upon that.
siehe auch du gehörst dazu und gemeinschaftliche Rituale
Der Wind in uns
Ich kann den Wind in meinen Fingerspitzen nicht ungesehen machen, die Wirbel sind zu eindeutig.
siehe auch Spiritualität und Ich mag Wind
freilebende Wölfe
Ich sehe eine Person, die für die Krähen Krümel an den Stamm schüttet. Denken muss ich aber an die Wolfsfrage, und was sie alles bedeutet. Wolf macht Wolfsding, Mensch macht das, was wir gelernt haben, als Menschding zu akzeptieren. Sprich: Sich um die sogenannte Ordnung sorgen, die Mensch in der Welt geschaffen hat. Sich zutiefst und unlogisch in binären Grabenkämpfen einrichten. Sich einmischen und alles noch schlimmer machen.
Die Wolfsfrage! Ein interessanter und heftig umstrittener Knotenpunkt in der Diskussion um die Zukunft der Wälder. Laut beteiligt sind vor allem Menschen, die jagen, Menschen, die Nutztiere besitzen, Menschen mit diffusen Ängsten, Menschen, die die Natur schützen wollen und welche, die die Natur rückverwildern wollen.
Was für Visionen haben die verschiedenen Gruppen für den menschlichen Umgang mit der Natur? Was haben sie für eine Vorstellung von Natur?
Ist die Frage, ob „wir“ den Wolf in „unseren“ Wäldern wieder wollen, überhaupt richtig gestellt?
„Selbst wenn wir aus der Welt keinen Ort ohne Raubtiere machen können, so können wir es doch vermeiden, selbst Raubtiere zu sein.“ – Christine KorsgaardWer reguliert was und mit welchem Ziel?
(Manchmal sehe ich Menschen mit Hunden auf der Straße und bin einfach verwirrt, dass das geht, dass da ein Tier ein anderes Tier an einer Leine führt, und es anschimpft, wenn es sich mit der Leine um einen Laternenpfahl verwickelt hat.)
Wer stirbt wie und warum? Wer tötet wie und warum?
schön sichtbar in den über 300 Kommentaren hierPrägungen, die in diese Fragen und vor allem in ihre Beantwortung mit rein spielen: Märchen und Mythen, also unsere Vorfahren und ihre Ängste. Aktuelle Ängste, auch um das eigene Leben und den Lebensunterhalt. Konkurrenzgefühle eines zweibeinigen Raubtiers gegenüber einem vierbeinigen Raubtier. Wünsche nach größtmöglicher Vielfalt in der Natur, vielleicht sogar Sehnsucht nach Wildheit (Monbiots „ökologische Langeweile“). Klischees von Stadtmenschen versus Landmenschen.
Mögliche trophische Kaskaden versus Zufriedenheit mit dem aktuellen Stand.
„Wölfe brauchen keine Wildnis um sich niederzulassen – sie kommen überall zurecht, wo sie genug zu fressen finden und der Mensch sie leben lässt. Dass sie sehr flexibel sind, zeigt auch ein Blick auf andere europäische Länder: In Spanien leben Wölfe unter anderem inmitten von riesigen Agrarmonokulturen, in Italien gehören auch Vororte von Rom zu ihrem Lebensraum.“ – siehe diese Fakten zum Wolf in Deutschland vom NabuWissen Menschen in Mitteleuropa überhaupt noch was wild bedeutet?
eine der letzten Szenen aus „Fantastic Mr. Fox“ von Wes Anderson
Pilztagebuch
„Nature is full of things that we can all agree on and I trust the power of that more than anything these days.“ — Sarah Rhyanen
Ledrig, wie lackiert, wie schon gekocht, wie leuchtend im Dunkeln, matt, stumpf, zerbrochen, zerfleddert, geschuppt, glitzernd vom Schneckenschleim, genoppt, beperlt, sandig, auf dürren Stängeln, auf dicken runden Hälsen, kugelig wie Astronauten, verschrumpelt, zusammengezogen wie Haselnuss-Umhüllungen, mit gelben Leuchträndern, mit nassen schwarzen Triefrändern, hohe Hüte, kleine Knöpfe, gesprenkelt, gepunktet, in matten braunen Massen, einzelne stolze Skulpturen, leuchtrot, lackrot, lachsrosa, zartrosa, hellweiß, beige, gelbocker, lederbraun, grünlich leuchtend, violett mit zarten Streifen.
Wie er sich im Bad einen winzigen Waschlappen nimmt, um sein Gesicht damit abzutrocknen. Wie der Koch von seinen Waldpilzen schwärmte, wie g’molt hätten die dagelegen.
Pilze sind natürlich sehr im Trend. Pilze: Derzeit so cool wie der Mond. Ich habe ein Stickerheft mit über 250 Pilzstickern. Ich atme täglich Sporen ein, mehr als ich begreifen kann. Pilze sind die neuen Feen.
„Everyone carries a history of contamination; purity is not an option.“ – Anna Lowenhaupt Tsing in The possibility of life in capitalist ruinsPilze bringen uns das angesteckt werden bei. Das komplex bleiben, menschlich bleiben, veränderlich bleiben. Das uns verändern lassen von den Menschen, denen wir begegnen. Das ist eh der Fall, also könnten wir das von vornerein einbacken in unsere Modelle und unser Denken.
Pilze bringen uns bei, das man nicht alles sehen muss, um verbunden zu sein.
„A mycelial network is a map of a fungus’s recent history and is a helpful reminder that all life-forms are in fact processes not things. The “you” of five years ago was made from different stuff than the “you” of today. Nature is an event that never stops.“ – Merlin SheldrakePilze bringen uns bei, dass wir Prozesse sind, nicht Ergebnisse.
Hier ist Musik über Pilze. Und hier ist Musik von Pilzen.
Pilze machen ihren eigenen Wind und Pilzsporen reisen im Windschatten und schießen wie Kanonen.
(…) he sits at a screen / his shadow on the cave wall / typing spells into a keyboard / finding the weak parts of / the systems we built. // and sending us love notes / that pop up as mushrooms / outside our window.
Auf dem öden Rasenstück vor dem Wohnblock gegenüber vom Friedhof wachsen dicke weiße Champignons, von Hundeschnauzen zerschnüffelt.
Wildnis
„Schon 1933 schrieb Aldo Leopold, ein Doyen der Naturschutzbewegung, mit Blick auf afrikanische Wildtiere: Every head of wild life still alive in this country is already artificialized, in that its existence is conditioned by economic forces.“ – Gesine Krüger in Wider die Natur? Bemerkungen zur JagdWie viel Wildnis kenne ich überhaupt? Wo ist sie?
Ein russischer Freund von mir lachte, als ich von meiner Idee mit dem Jagdschein erzählte, und fragte: Sind die deutschen Wälder nicht eigentlich eher Parks?
Selbst der Wolf, unser vermeintlich „wildestes“ Tier, braucht keine „Wildnis“, um in Europa wieder Fuß zu fassen.
„Komm Wildnis in unsere Häuser / zerbrich die Fenster komm / mit deinen Wurzeln und Würmern / überwuchere unsere Wünsche / Mülltrennungssysteme Prothesen / und Zahlungsverpflichtungen / wirf dein raschelndes Laub auf uns / und deine Sporen wirf dass wir / grün werden grün und andächtig / grün und greifbar grün und ersetzlich“ – Daniela Danz in WildnißAuch wenn es so schön wäre, und so viel Sehnsucht enthält, und oft so praktisch wäre – auch die Gegenüberstellung wild versus urban scheint mir eine binäre Vorstellung, die im Denken und Sprechen aufgelöst gehört, weil sie schon längst aufgelöst wurde oder nie wirklich existierte.
Anne Boyer schreibt: I wanted to be really ordinary like an animal.
Jagd
Zu Beginn des dritten Pandemie-Jahres überlege ich, den Jagdschein zu machen. Nicht, weil die Jagd als solche mich fasziniert, sondern weil mich Greifvögel faszinieren, seitdem ich ein kleines Kind bin (noch als Teenager war das einzige Poster in meinem Zimmer ein Plakat von Greifvögeln, erst später ergänzt durch eins von Jean-Luc Picard) und weil ich die Falkner:innen Ausbildung machen möchte, und zur Ausübung der Beizjagd benötigt man in Deutschland wiederum einen Jagdschein.
Das stellt mich vor Herausforderungen, praktischen (die Jagdscheinprüfung ist herausfordernd und benötigt extrem viel Zeit und Geld in der Vorbereitung), sozialen (wem werde ich in diesem Prozess begegnen und werde ich mich mit ihnen sicher fühlen?) und auch moralischen. Ich begegne diesen Herausforderungen, indem ich lese.
Das hier sind meine Notizen und Gedanken zu diesem kleinen selbstgewählten Vorabstudium, in dem ich versuche, diesem auch in mir umstrittenem Thema so zu begegnen, wie ich vielschichtigen Themen (also allen Themen) begegnen möchte: mit weitem, nicht-binärem Blick, nicht voreingenommen, unter Einbezug von indigenen Blickwinkeln und den Argumenten und Überlegungen von sowohl Gegner:innen als auch Menschen, die zutiefst vom Jagen überzeugt sind, vor allem aber von denen, die es tun oder nicht tun und jeweils gleichzeitig ihre Zweifel benennen und betrachten können.
Zu welchem Entschluss ich kommen werde, ist mir selber noch nicht klar.
☙
Ein hervorragender Einstieg in das Thema ist der Artikel „Wider die Natur? Bemerkungen zur Jagd“ von Gesine Krüger. Sie macht darin ein großes Feld auf, von mordlustigen Trophäenjäger:innen über die Ansätze der Ökojagd über Zweifel an der Hege von Wild bis hin zu mordlustigen Tierrechtler:innen.
Sie skizziert darin Fragen, die mir in meinem mäanderndem Lesen zu diesen Themen immer wieder begegnen: Wie ist das menschliche Verhältnis zu Tieren, und zur Natur insgesamt, entstanden? Wie hat es sich verändert? Wie hat es uns Menschen verändert? Auf welche Basis legen wir unsere (moralischen) Entscheidungen, um sie zu rechtfertigen?
– Gesine Krüger in Wider die Natur? Bemerkungen zur Jagd
Die Jagd ist nichts “Natürliches“, sondern eine mit Ritualen verbundene, uralte Kulturtechnik, die sich bis heute stetig gewandelt hat. Es ist die Jagd selbst, die einem kulturellen Prinzip der Veränderung unterliegt. … Viel wichtiger als das Aufspüren eines angeblich in der Evolution des Menschen entstanden „Jagdtriebes“ ist daher ein Verständnis der „Kultur“ der Mensch-Tier-Beziehung, nicht zuletzt bei der Jagd.
☙
Was mich im Moment an der Idee, den Jagdschein zu machen, reizt, ist (neben dem Zurückkreiseln zu einer sehr alten Sehnsucht in mir, siehe oben) dass es ein weiteres Lebenshandwerk ist und (später, also nach erfolgreicher Prüfung) Zeit draußen bedeuten kann, stille, langsame Zeit draußen, und ein ehrlicherer Umgang mit Fleisch und seiner Herkunft und dem Tod des Tieres.
Das kann ich alles schreiben, aber wirklich weiß ich noch nicht, was mich da hinzieht, was ich suche, ob ich das wirklich will, wie es wirklich wäre. Es wären neue Widersprüche, die ich in mir halten müsste. Es wäre ein Schärfen meiner Augen, meines Blicks in die Welt, ich würde so viel lernen über den Wald und das Wild und seine Lebensweisen. Ich weiß nur nicht, ob ich jemals wirklich auf ein Tier schießen will.
Vor allem reizt mich, dass es sich anfühlt, als wäre die Jagd eine aktivere Begegnung der Welt, als ich sie bisher lebe. Weil sofort die Frage nach der Verantwortung auftaucht: Wie kann ich es potenziell verantworten, einem anderen Tier das Leben zu nehmen? Was für eine Verortung in der Welt braucht es dafür?
„Hin und wieder bin ich in eine Kanzel gestiegen, um zu sehen, wie es ist. Doch nie blieb ich lange, ich kletterte einfach, ehe ich es recht wusste, die Leiter wieder hinab. Gelegentlich mache ich es noch, wenn ich spazierengehe, in eine Kanzel steigen, um einen besseren Blick auf das Wild zu haben. Doch nie bleibe ich solange wie mit dem Gewehr. Offenbar muss ich auf Jagd sein, muss es eine Chance geben, dass etwas passiert. Es muss einen anderen Zweck geben, als zu träumen, die Natur zu genießen oder zu mir selbst zu kommen. Es reicht mir nicht, in einer Kulisse zu sitzen, mit einem Wildfoto nach Hause zu kommen oder mit einem geläuterten Gefühl. Ich will die Landschaft berühren, etwas darin verändern, darin heimisch sein. Erst dann gehe ich im Moment auf und vergesse die Zeit. Ja, das ist es, wenn ich jage, gehöre ich dort hin, dann ist das mein Biotop. Das ist die Läuterung, die ich suche. Ich, ein Tier in der Nähe von anderen Tieren, genauso wie die anderen Tiere, eines mit Blut an den Händen und mit Lust auf Fleisch.“ – Pauline de Bok in BeuteWarum erscheint mir die Jagd gerade als eine der wenigen, oder als die attraktivste, Art und Weise, mehr Zeit in der Natur zu verbringen, von ihr Teil zu werden und wirklich über sie zu lernen? Selber aktiv zu sein draußen? Warum will ich nicht passiv sein draußen? Warum kann ich nicht ohne eine Schulung und eine Prüfung und eventuell befremdliche Brauchtümer lernen, welcher Baum welcher ist und welches Wild sich wie verhält? Warum setze ich mich nicht einfach so raus, und beobachte, und zeichne, und gestalte auf meine bisherige Art mit? Warum gehe ich nicht einfach weiter wandern?
Die Fragen nach dem aktiven eigenen Töten eines Tieres, ob ich dazu bereit wäre und wenn ja, auf welche Art, sind Fragen nach meiner gesamten Vorstellung davon, wie und was „Natur“ ist, wie und was „wild“ ist, welche Rolle ich darin spiele, welche Rolle Menschen allgemein darin spielen und welche Rolle ich glaube, dass sie spielen dürfen.
Es stellt auf eine andere Art Fragen, die ich mir ohnehin schon stelle: Gehöre ich dazu? Wie sehr darf ich teilnehmen? Was darf ich gestalten, wie viel Einfluss darf ich nehmen, über wessen Leben darf ich richten? Wann nehme ich Schuld auf mich?
Es braucht – so vermute ich – viel Selbstbewusstsein, und eine Form von innerer Sicherheit, um zu jagen. Denn das kann ich dann nicht mehr zurücknehmen, ich kann kein Leben geben, wenn ich Tod gegeben habe. Das ist eine Verantwortung, die ich so nicht kenne.
☙
„If the intention is not to leave but to enter, not to hide but to belong, relationship with the non-human brings back deep value to human community and enriches culture.“ – So Sinopoulos-Lloyd in Tracking as a Way of KnowingIn meiner Suche nach Antworten, oder nach den richtigen Fragen, stoße ich auf das Projekt Queer Nature, stoße auf die darin verwebten Fäden zum Spuren lesen und zu Camouflage als Drag, als die Kunst, in der Natur aufzugehen.
Die Welt lesen lernen, was kein Lesen ist, ist ein Eingang in diesen uralten Dachsbau.
Die Vorstellung, sich bewusst in der Natur unsichtbar zu machen, um eine Weile dazu zu gehören, ein weiterer.
☙
Ich finde auffallend viele Bücher von Frauen zur Jagd, oder die erzählerischen Bücher, die mich im ersten Moment interessieren, sind von Frauen geschrieben. Was vermutlich kein Zufall ist, sondern ich suche wahrscheinlich den Blick von Außenseiter:innen, von Menschen, die nicht in dem Bewusstsein aufgewachsen und sozialisiert worden sind, dass es ihr Grundrecht und eine Selbstverständlichkeit ist, jagen zu gehen. Menschen, die diese Entscheidung und diese Verantwortung verarbeiten müssen.
Das Buch „Beute“ von Pauline de Bok beginnt heftig, als ob es einen Pfahl einschlagen müsse, um zu zeigen, wo wir hier sind und auf was wir uns als Lesende einlassen. Worüber ich stolperte, weil es wie eine überdramatisierte Lektorats-Entscheidung wirkte, aber im weiteren Verlauf des Buches wird mir klar, dass es nicht nur das war, sondern ein Ereignis, dass de Bok nachhaltig beschäftigt und formt. Auf den ersten Seiten schießt die Erzählerin ein junges Wildschwein, um dann festzustellen, dass die Sau bereits „beschlagen“ war und vier graue Frischlinge enthielt – was ein Jagdfehler ist, und der Jäger, der dazu kommt, raunt ihr zu, dass sie darüber besser nicht sprechen sollte. Dann das Aufbrechen im Detail, der Kampf mit dieser Menge an Tier. Da muss ich schlucken, und das ist gut so, das ist die Art von Bericht, die ich gerade lesen muss, pragmatisch und real und nicht romantisierend.
Es schält sich für mich heraus, dass ich mit diesen mir unbekannten Themen, diesem drastischen, klaren, sehr angewandten Umgang mit dem Tod, in der Theorie kein Problem hätte, solange ich genau wüsste, warum ich das mache. Freizeitvergnügen als Begründung reicht mir auf keinen Fall, das ist absurd, auch nicht mein Wunsch, öfter draußen zu sein. Waldmanagement, Schadensbegrenzung, Naturschutz – das muss ich erst besser verstehen, wie das gedacht ist und umgesetzt wird, und ob ich dem wirklich folgen kann. Den meisten modernen und staatlich regulierten Herangehensweisen im Umgang mit der Natur kann ich nicht folgen, warum sollte das also hier eine Ausnahme sein? Es bleibt der Gedanke des Essens, dass ich, wenn und da ich ja Fleisch esse, dieser Realität des Tötens von Tieren in die Augen schauen können muss.
Und in der Praxis ist das alles mit Sicherheit eh nochmal eine ganz andere Frage, vor allem bei meiner Geruchsempfindlichkeit.
Das Buch von de Bok bleibt sperrig und unbequem und hart, und fragt gleichzeitig weich und tief, sucht Antworten mit einer überraschenden Ehrlichkeit. Vielleicht, so schlägt es mir zwischen den Zeilen vor, wollen viele Menschen gerade Wildheit, aber eine da draußen, eine entfernt von ihnen, und sie können mit der Wildheit im Innern der Menschen (zu der auch der Jagdtrieb, oder sogar die Jagdfreude, gehört) nicht gut umgehen.
☙
Vielleicht will ich doch einfach öfter in den Wald, um zu zeichnen. Aber ganz so einfach ist es nicht. Und ich ahne, dass ich so viel mehr (oder andere) Hintergründe, Rituale und Anleitungen suche, als ich sie in einer deutschen Jagdschule finden werde.
☙
Ich lerne: Wir wissen so wenig. Mit all unserer Überwachungstechnik und all unseren vielen Köpfen wissen wir trotzdem nicht, wie viel Wild wo lebt, ob es ihm gut geht, was es von uns braucht, ob wir eingreifen sollten oder nicht. Wir versuchen uns im „managen“ von Wald, wir versuchen, unsere Ernten zu schützen, aber was genau das auslöst, wie das langfristig weitergeht, können wir nicht sagen. Aber schießen Satelliten in’s All.
☙
Ich lese weiter von der Jagd und schwanke weiter heftig. Auch hier wäre ich Außenseiters, das wäre wieder Schule und, neben dem sehr wertvollen, auch eine Menge für mich unnützes Wissen, das fordert so viel Zeit und für was genau – ich weiß doch gar nicht, wie sich das eigentlich anfühlt oder was ich eigentlich darin suche.
Aber es bleibt das Gefühl, dass das zu meinem Erwachsen-Sein dazu gehört. Dass ich mich diesen Entscheidungen über Leben und Tod und diesem bewussten und näheren Umgang mit der Natur nähern will und muss. Es fühlt sich an wie eine Aufgabe. Wie etwas, das für mich dran ist und das ich lösen muss. (Noch kann ich nicht genau sagen, wie die Aufgabe lautet.)
Eine Freundin erinnert mich daran, dass ich schon vor zehn Jahren gesagt habe, ich würde am liebsten das Fleisch, was ich esse, selber er- und zerlegt haben wollen. Und dass sie das damals gut fand, sie, die noch nie in ihrem Leben Fleisch gegessen hat. Sie findet, dass die Welt Jäger:innen wie mich bräuchte.
Ich denke: Ich will jagen lernen. Was ich dann jage, weiß ich noch nicht. Ich will diese Sinne trainieren, ich will diesen Zustand kennenlernen. Ich will die Zeit und die Ruhe dafür haben.
Spuren erkennen
Man lerne. Winterbäume.
Wie sie im Raureif stehen.
Man lerne. Sommerwolken.
Wie Himmelswälder glühen.
Man lerne Honig, Walnuss,
Raumschiff und Pappelbaum,
Wörter wie Montag, Hétfö,
Kedd und Freitag auch,
Ungarisch, alle Sprachen,
man lerne, was auftaucht.
Was leuchtet, Zeichen gibt:
Man lerne, was man liebt.
– Ágnes Nemes Nagy
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„I just feel very curious about the differences between you know, looking at it through a colonial & computational lens of seeing information as static, versus seeing the tracks on the ground as part of dynamic, living and breathing relationships that include me or whoever is also apprehending them.” – Pınar Sinopoulos-LloydKann man die Landschaft lesen? Sind die Spuren von Tieren und Pflanzen darin, die wir entziffern lernen können, sind das Geschichten, die für uns geschrieben wurde? Oder ist das Entziffern und Erkennen eher ein Bezeugen der Beziehungen, die sich in der Landschaft abspielen?
„For me, so much of tracking is about the aesthetic beauty of traces of animacy. It’s not just about answers. It’s not about this = equals = this, because I think that can really obscure the process of getting there, which is so often a humbling process of getting to know a place, and non-human persons within it. Often it takes me weeks or even months to figure out why or how a track or sign was made, or by whom. Sharing it here is about the experience of seeing. It’s easy to get caught up in identifying before we’re ready to, in some of the worlds we walk in. (…) Tracks, and bodies, are always iterations, never copies: there are always new stories being told.“ – Queer Nature in diesem PostIst der Prozess des Hinschauens vielleicht wichtiger als die gelungene Identifikation, die „richtige Antwort“?
Hat die Notwendigkeit, Spuren „lesen“ zu können, trotzdem auf lange Sicht dazu geführt, dass Menschen überhaupt die Fähigkeit entwickelt haben, geschriebene Sprache zu verwenden – die im Vergleich zu natürlichen Spuren in der Welt deutlich weniger komplex zu erkennen sind, da die gedruckten Zeichen eines Alphabets eben nicht individuell, dynamisch und kontextbezogen sind?
aus dem Essay Tracking as a Way of Knowing von Sophia Sinopoulos-Lloyd
David Abram suggested in The Spell of the Sensuous that the skill of tracking, a necessity for ancient hunters, could have put critical selective pressure on the human mind to expand its semiotic capacity. In other words, our ability for symbolic and abstract thought, culminating in written language, owes much to the fact that human survival used to depend on our ability to decipher marks left by unseen phenomena. As Abram points out, unlike modern letters, numbers, and other glyphs, these marks were rarely identical—in fact each one was unique, not just because of the uniqueness of the individual who made it, but also because of the circumstances of its creation, like what the weather or the substrate was like. Thus, recognizing how and why a certain imprint was made on the ground (or on some other surface) is more complex from a cognitive standpoint than recognizing a letter or word printed on a page.
Eine Art von Gegenargument, gefunden in einem Artikel über Afantasie, also über die fehlende Fähigkeit, sich Bilder im Kopf vorzustellen:
hier zitiert Austin Kleon Jacob Bronowski in seinem Essay The Reach of Imagination
„To imagine means to make images and to move them about inside one’s head in new arrangements.” But, “I am using the word image in a wide meaning, which does not restrict it to the mind’s eye as a visual organ.” In his usage, “image” includes signs, and, oh hey, words: “the most important images for human beings are simply words, which are abstract symbols.”
siehe auch die Stadt orten
Warum weinen? Warum nicht weinen?
Je langsamer ich gehe, umso reicher wird mein Tag. K Saß, Schrickel und Dr. Michel. Zwei Männer, die wartend in Autos sitzen, einer davon lächelt mich aufmunternd an. Eine Taube, die sehr weit oben in einer Birke sitzt, auf der wackligen Birkenspitze. Droopy, droopy, denke ich beim Anblick der hängenden Holunderbeeren. Vergessene Becher auf alten Kindergartengeländen. Eine junge Frau mit Staubsauger und Zigarette. All die Paradiese der einzelnen Häuser mit ihren raschelnden Gärten. Die zwei Stöcke und der Porzellanteller vor dem Kellereingang. Die Stillleben vom Samstag, trockene Holunderbeerbüschel und faulende Äpfel, sorgfältig gelegte Stein- und Astflüsse, ein großer hohler Stamm gespickt mit Blüten und Blättern.
Jederseits in ungefähr sieben Reihen.
“Die weißen Tupfen sind jederseits in ungefähr sieben Reihen über die lebhaft braune Decke verteilt.”– Richard Gerlach
Ich glaube, mich werden die Spaziergänge ins Atelier retten. Zu Fuß zu gehen anstatt zu radeln gibt mir und meinem Körper das Gefühl, dass ich Zeit habe, dass ich zeitreich bin, dass ich kucken darf. Ich grüße einzelne Bäume mit Shake-Hand oder High-Five. Ich bleibe an Verschenke-Kisten voller Tierbücher stehen und decke mich ein mit Sachbüchern aus den Fünfzigern mit Bildtafeln von jungen Feldhasen, einen Tag alt, und rührenden Sätzen.
Überhaupt, diese Sachbücher aus dem letzten Jahrhundert. Mit welcher Aufmerksamkeit und Liebe darin erzählt wird, und nicht einfach nur gesachbucht. Das sind die Texte, die ich mit am liebsten lese.
Es musste natürlich auch mehr in Worten erzählt und beschrieben werden, weil Bilder seltener und nicht farbig waren. Das macht es ein bisschen schade, dass inzwischen alles sofort mit einem Foto, oder gleich einem Video, erzählt werden kann.
Das ist eine Abkürzung wie das Radfahren vermutlich, mit eigenen Freuden und eigenem Fahrtwind, und eigenen Verlusten.
Zärtliche Briefe
Habe ich eigentlich schon erzählt, dass ich zusammen mit Krister einen gelegentlichen Newsletter betreibe? Es ist der Newsletter mit den schönsten Themen. Zum Beispiel: Erfundene Orte.
Es sind sprachfähige Delfine dabei und eine Maus im Teenageralter und ein Klappgarten für die Hosentasche.
(Und ein Architekt namens Graf W. Wütend-et-Unsitte.)