digitales Gärtnern
Ergänzend zu meiner Einführung in meinen digitalen Garten, hier eine grobe Übersicht meines Verarbeitungsprozesses.
Für meine Gartenarbeit habe ich viele Anregungen aus verschiedensten Orten aufgenommen, unter anderem aus Beispielen digitaler Gärten und öffentlicher Notizensammlungen wie diese Sammlung von Gwern Branwen, diese Notizen von Andy Matuschak, dieser digitale Garten von Anne-Laure Le Cunff und dieser von Maggie Appleton, außerdem aus Tiago Fortes Blog zum Thema Second Brain, Nicole Zhus Kompostieren, Sister Corita Kents Sammeln, von Sophie Strand als ein moderner Komposthaufen, von Sarah Ryhanen und Austin Kleon und der ausdauernden, liebevollen, selbstverständlichen Nutzung ihrer Blogs.Das ist mein künstlerischer Prozess, also der Weg, durch den Elemente aus der Welt durch mich hindurch bewegt werden und dabei eine andere Form annehmen, die ich wiederum zurück in die Welt geben kann. Für den es natürlich auch viele andere Namen gibt, von dem mechanischen Begriff „Knowledge Management“ bis hin zum organischeren Bild des digitalen Gärtnerns.
Das Bild des Gartens mag ich. Meine Metaphern sind nicht mehr stabil und belastbar wie Architektur, sondern mäandern, wachsen durcheinander, sind in Bewegung.
SAMMELN
Joplin orientiert sich sehr an der kommerziellen Software Evernote, die ich lange Zeit verwendet habe. Evernote wurde mir allerdings irgendwann zu überfrachtet mit unnötigen Funktionen, die ich nicht mehr brauchte, und zu unsicher, weil man mit Evernote keine lokalen Backups machen kann und ich somit darauf vertrauen sollte, dass all meine Notizen in deren Cloud gut aufgehoben sind. Da habe ich mich dagegen entschieden und bin nun sehr glücklich mit meiner lokal gespeicherten und auf meinem eigenen Server gesicherten Version von Joplin. Die Elemente aus der Welt, die mich berühren und die ich in meine Arbeit einflechten will (zum Beispiel Zitate und Gedanken aus Büchern, Gesprächen, Podcasts, Newslettern, Artikeln, Posts, Videos …) sammle ich zurzeit hauptsächlich in der Notiz-App Keep, Handyphotos, Sammlungen auf Instagram, analogen Notizbüchern und in Joplin, einer Open Source Notizbuchsoftware.
Dazu sammle ich seit Jahrzehnten in einer ziemlich ausgedehnten Praxis des Tagebuchschreibens täglich das, was in mir gerade lebendig ist. Das passiert digital in Joplin und auf Papier in einem Zeichentagebuch.
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KOMPOSTIEREN
„I want to let myself go back to the place where ecstasy and aching are knit together - a creative place that fills me up so much that it overflows - then only can I really begin.“ – Sarah RyhanenAll diese gesammelten Elemente lasse ich miteinander kompostieren. Das passiert auch viel in Joplin, hier gibt es ein kunterbuntes Durcheinander an Notizen in verschiedenen Stadien (Rohmaterial von anderen, von mir kommentiertes Rohmaterial von anderen, kuratierte Sammlungen aus verschiedenen Blickwinkeln anderer zu einem Thema, Rohmaterial von mir …), lose vorsortiert in verschiedene Ordner und Einzelnotizen zu bestimmten Themen.
Neuerdings werfe ich auch einen Teil meiner täglichen Gedanken auf meinen öffentlichen Kompost, denn Luft ist manchmal wichtig für den Kompostiervorgang.
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PFLANZEN
„Almost every writer will tell you how important it is to keep a daily diary or notebook, but very few emphasize how important it is, if you want to publish, to have a system for going back through those personal notebooks and diaries and turning them into public writing.” — Austin KleonAuf diesen Komposthäufen gedeihen manchmal Pflänzchen, die ich dann in meinen digitalen Garten umziehe. Dafür sichte ich die Häufen, verflechte Gedanken, formuliere aus und um, sortiere, ergänze sie mit Links untereinander und zu Quellen. Dabei entstehen ebenfalls unfertige Notizen, die aber (in den meisten Fällen) auch für Außenstehende weitestgehend nachvollziehbar und hoffentlich manchmal wertvoll sind.
Vor Jahren schrieb ich dazu: Die Rosen-Nüsschen, die ich im Herbst umständlich aus einer dicken Handvoll Hagebutten herausgeklaubt habe und die im Kühlschrank überwinterten, fangen dieser Tage an zu keimen. Ich pflanze sie ein und begreife dabei, dass das Schreiben genau das Gleiche ist: Kleine Mulden drücken und sie füllen.Diese Notizen beginnen klein und dürfen wachsen, ich pflege und gieße sie, sie dürfen sich untereinander berühren und anstecken.
Die Briefe sind Statusmeldungen und Grüße aus dieser Phase, es sind Briefe, die ich am digitalen Gartentisch schreibe, mit Wind um die Nase.
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WEGE FINDEN
Diese Gedanken entstammen einem Austausch mit der Fotografin Julia Vogel in einem unserer Website-Gruppenkurse – Julia hatte als Metapher für ihre Website einen wuchernden Wildkräutergarten gewählt und schrieb dazu: „Ich möchte Wege ebnen. Einfach dadurch, dass ich mich intuitiv durch den Garten bewege. Pfade austrampeln, da wo es mich immer wieder hinzieht. Jetzt im Winter geht das gut. Bevor im Frühjahr dann alles wieder wuchert, möchte ich die Wege befestigen und einige Pflanzen achtsam zurückschneiden.“Mein Garten ist nicht nur kultiviert und bewusst gesetzt, sondern besteht auch aus dichtem Gestrüpp, einem wilden Wäldchen, wuchernden Brombeerhecken. Dadurch, dass ich mich intuitiv zwischen den Bereichen bewege, manche öfter aufsuche, andere eine Weile liegen lasse, entstehen Pfade durch den Garten.
Das sind die Notizen, die ich aktualisiere, und die dadurch wieder weiter oben auftauchen in der Liste, das sind die Verknüpfungen, die ich zwischen einzelnen Notizen anlegen. Das sind die Pfade nach außen, in die Gärten und Wälder und Häuser anderer.
Pfade entstehen langsam. Sie sind sehr konkret durch die Erde vorgegeben, hier ist eine Anhöhe, dort ein dicker Baum, hier ein bisschen Wasser. Die Wege, die ich finden will, respektieren diese Grundlagen und versuchen, damit umzugehen und nicht darüber zu betonieren. Anfangs ist man unsicher, sieht nur eine dünne Spur auf dem Boden, die Zweige, die brechen, die Brombeeren, in denen man sich verheddert, kommt nur langsam voran (sieht dadurch aber allerdings auch viel mehr). Erst mit vielfachem Nutzen, mit Festigkeit und Gewohnheit, werden die Pfade breiter und es kommt Geschwindigkeit hinein.
„Gardens have their own ways each season. In the winter, not much might happen, and that’s perfectly fine. You might spend the less active months journaling in your notebook: less output, more stirring around on input. You need both. Plants remind us that life is about balance.“ – Laurel SchwulstPfade sind saisonal. Manche Pfade werden im Sommer einfach unsichtbar, verdrängt durch das nachschießende Grün. Es ist also ein Geschenk der kargeren Jahreszeit, dass die Struktur einer Gegend ganz anders sichtbar wird.
Pfade sind ein gemeinsames Werk. Sie entstehen in Gemeinschaft – mit anderen Menschen, Tieren, Pflanzen, Pilzen, sie sind immer eine kollektive Arbeit, im Zweifel über Generationen hinweg.
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ERNTEN
In diesem Verbinden und Verdichten und meinen Weg darin und dadurch suchen entstehen zum Teil und manchmal längere, durchgearbeitetere Essays und Blogartikel und Beiträge zu Zeitschriften, und hoffentlich immer mehr auch meine Gedichte und Bücher. Das sind die „fertigeren“ Werke, in die alles hinein fließt, die ich als (fragil und künstlich) abgeschlossene Einheit einer anderen Person in die Hand drücken kann. Das ist alles, was aus dem digitalen Garten überschwappt, das ist die Ernte.
Die Ernte ist hier vielleicht insofern ein passender Begriff, als es auf eine Art „darum geht“, diese Erzeugnisse sind ein grundlegender Teil des Sinns, den dieser Garten für mich hat. Und gleichzeitig (was viele Echtwelt-Gärtner:innen vermutlich bestätigen können) geht es überhaupt nicht nur um dieses Ziel, sondern zu einem sehr großen Teil um den Prozess, um den Dreck unter den Fingernägeln, die Amsel, mit der man sich anfreundet, die Sonne, die einem in den Nacken scheint, und all die anderen hübschen Bilder, die die Vorstellung vom Gärtnern weckt. Und klar, auch um die Samen, die nie aufgehen, und der Frust der misslungenen Anbauversuche und das Wetter, das manchmal nie zu passen scheint, sprich um das Lernen und darum, der Welt ausgesetzt zu sein.
Soll heißen: Ich würde das hier vermutlich auch dann machen, wenn nie etwas überschwappen würde, denn ich bin gerne hier.
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