Reden über Fehlgeburten

tante-alles-ricarda-kiel-fuer-heute-stolz.gif aus die kleine Geburt in Tante Alles

Plötzlich findet man sich in einer schweigenden Gemeinschaft von Trauernden wieder, als hätte man die falsche Tür gewählt und müsse sich nun in einem unwirtlichen Raum neu einrichten. Von erfolgreich verlaufener Schwangerschaft wird viel erzählt, aber Fehlgeburt, Totgeburt oder unerfüllter Kinderwunsch bleiben ein Tabu. Es ist schwer sich mit dem Tod zu befassen, mit dem Ende der Hoffnung, dem Scheitern, dem fehlbaren Körper, der nicht wie ein Uhrwerk seine Funktion erfüllt.“ – aus Splitterstücke von Berit GlanzDass „man“ viel mehr über Fehlgeburten sprechen sollte, ist schon fast ein Allgemeinplatz, weil es natürlich wichtig ist, über all die in westlichen Gesellschaften so oft tabuisierten Themen zu sprechen, die mit Scheitern, Scham und Schuld im Zusammenhang von Körpern mit Gebärmüttern zu tun haben. Die mit dem Tod zu tun haben, der hier so gerne aus dem Alltag gedrängt wird.

Sehr viele der Berichte, die ich über Fehlgeburten gefunden habe, sind im Kern eine Variante von: Das ist passiert, so und so war es, jetzt hat es aber doch noch geklappt, jetzt habe ich ein oder zwei oder drei Kinder. Seltener schreiben die, die eine Fehlgeburt nach der anderen haben, und es „klappt“ einfach nicht. Noch seltener schreiben die, die eine Fehlgeburt haben und dann entscheiden, dass sie eigentlich gar keine Kinder haben wollen. Dass es zwar schmerzhaft und schlimm war, und immer noch manchmal sticht, aber dass es jetzt irgendwie auch okay so ist.

Ich wünsche mir deshalb auch, dass wir öfter über Fehlgeburten sprechen, ohne das Thema mit Hoffnung zu füllen. Weil es Körper gibt, für die diese Hoffnung einfach keine Realität ist. Weil es Menschen gibt, für die eine Fehlgeburt traumatisch bleibt, völlig unabhängig von eventuellen lebendigen Kindern. Und weil es Menschen gibt, die nach einer Fehlgeburt die Gewissheit entwickeln, dass sie es nicht „einfach nochmal probieren“ wollen.

Um eine Gewissheit zu entwickeln, braucht es einen Raum, in dem man diese Gedanken denken kann.

Es gibt keine „normale“ oder allgemeingültige Erzählung über Fehlgeburten, nur so viele einzelne Erfahrungen, mit vermutlich so vielen Gedanken, die wieder hinuntergeschluckt wurden.

In der Tante Alles schreibe ich: „Ich spüre, dass ich reden will, ich will diese Geschichte erzählen, zumindest ein paar Mal noch, zumindest ein paar Menschen, in diesem Erzählen beobachten, was mir klar wird.

Ich versuche also öfter über Fehlgeburten zu reden. Und gleichzeitig versuche ich das manchmal zu vermeiden, denn es war für mich zwar ein extrem wichtiger Teil meines eigenen Prozesses, aber eben auch ein unschönes und trauriges Erlebnis, und es gibt genug unschöne und traurige Erlebnisse. Aber leider werden die auch nicht weniger traurig, wenn wir nicht darüber reden, im Gegenteil. Ich will über Fehlgeburten reden, um selber zu lernen und mit anderen zu teilen, wie Menschen damit umgehen können, im konkret-medizinischen Sinn wie im emotional-langfristigen.

Selbst nachdem ich meine eigene kleine Geburt tief durchgearbeitet und verarbeitet habe, ich danach die Entscheidung getroffen habe, keine eigenen Kinder zu bekommen, ich mich intensiv mit meiner Rolle als Tante auseinandergesetzt und ein Buch dazu geschrieben habe, ich meistens voller Klarheit und Dankbarkeit bin für diesen Prozess und diese Entscheidung und den Raum, den sie mir gibt – selbst dann bleibt oft ein neidgesäumtes Staunen, wenn in meinem Umfeld jemand schwanger ist, wenn es bei jemandem tatsächlich „klappt“. Das ist ein Riss in mir, der grundlegend gesäte Zweifel, dass eine Schwangerschaft gutgehen kann, und das ärgerliche Gefühl, dass andere besser funktionieren, dass ihr Körper das tut, was er „tun soll“.

Meine Heilung ist nicht binär. Ich bin bei mir und einverstanden mit dem, wie es jetzt ist, und mir kommen manchmal die Tränen, wenn ich mich mit dieser Form von Verlust konfrontiere, wenn ich diese Schachteln öffne, diese Gespräche führe, von diesen Erfahrungen lese, wenn ich mir erlaube, mit wildfremden Menschen mitzufühlen. Das ist Mitgefühl mit mir selbst, das dann auftaucht, ein nochmal-nochmal-nochmal mir bestätigen, dass ich trotzdem vollständig bin. Und es ist Mitgefühl mit den Menschen, die ich liebe, deren Verluste ihnen noch viel mehr Schmerz gebracht haben.

Die Erinnerung daran, dass alle Körper das tun, was sie tun sollen (sie beherbergen Seelen).

Die Erinnerung daran, dass es ableistisch ist, Körper auf ihr Funktionieren zu reduzieren. Die Fetischisierung des Funktionierens macht eine Fehlgeburt erst zu einem angeblichen Scheitern.

Auch die Erinnerung daran, dass ich nicht immer die Kontrolle über das Geschehen haben kann.

Die Erinnerung daran: Die Male, die es „nicht geklappt“ hat, sind weniger sichtbar.

Die Erinnerung daran: Du hast das durchgefühlt und willst es nicht nochmal, das war eine Erfahrung, die dich plastischer und größer gemacht hat. Die Erinnerung daran, dass ich keine Verpflichtung habe, mich für andere zu freuen und dass ich trotzdem dazu fähig bin.

Ich will mehr über selbstbestimmte Fehlgeburten sprechen, über die kleine Geburt als eine Erfahrung, die ein Mensch erleben und einarbeiten darf, sich selber aneignen darf, ohne sich dabei einem System aushändigen zu müssen. Ohne dass dabei geprüft wird, wie viel Vertrauen ich zu den zufällig anwesenden Verkörperungen der Schulmedizin habe. Ohne dass ich mir einen Schutzraum erkämpfen muss.

Schlimm ist nicht schlecht“ – so zitiert die Hebamme Antje Tiessen ihre Ausbilderin in dem großartigen Buch Nicht nur Mütter waren schwanger Ich erzähle in der Tante Alles, dass eine Fehlgeburt auch ein Durchgang sein kann. Und dass Narben vom Durchschreiten bleiben dürfen. Ich möchte, dass Menschen die Möglichkeit bekommen, sich vorzubereiten auf eine solche Erfahrung, ohne Angst zu schüren, ohne dabei so zu tun, als könne man sich wirklich darauf vorbereiten. Ich möchte, dass Menschen, wenn sie es wünschen, bei dieser Erfahrung begleitet werden, von Freund:innen, Hebammen, Doulas.

(Nebenbei erwähnt, weil es viel zu wenige wissen: Menschen haben in Deutschland das Anrecht auf eine Begleitung durch eine Hebamme bei einer Fehlgeburt.)

Und ich will genauer hinschauen: Was kann ich von Fehlgeburten über Abtreibungen lernen? Wo sind da die versteckten sexistischen Parallelen, die Menschen mit Gebärmüttern absprechen, über ihre eigenen Körper Bescheid zu wissen und bestimmen zu dürfen?

Manche Parallelen sind gar nicht so sehr versteckt: In einer sogenannten Themenwoche zu Fehlgeburten, gehostet von einer großen „Frauenzeitschrift“ auf Instagram, ist in den erklärenden Videos (im Hintergrund entweder ein waberndes Ultraschallbild oder ein Schwangerschaftstest) immer von einem verstorbenen „Baby“ die Rede, auch wenn es eigentlich gerade um ein Embryo oder einen Fötus geht.

Was sich bestimmt für viele betroffene Leser:innen wertschätzend anfühlt, aber dringend eine Abgrenzung in Richtung Abtreibungsgegner:innen braucht. Wenn eine individuelle Person eine Fehlgeburt als den Verlust eines Kindes wahrnimmt, ist das eine persönliche Sache, die ich komplett respektiere und gut nachvollziehen kann. Wenn aber pauschal von einem Medienhaus wenige Wochen alte Embryos Babys genannt werden, ist das eine sehr wacklige Kante, die schnell zu kriminalisierenden und antifeministischen Theorien führen kann.

Klar, das ist Social Media, und klar, das ist eben ein Medienhaus mit mehr wirtschaftlichen als gesellschaftlichen Interessen, die kennen ihre Leser:innen, die werden sich mit der Szene der „Sternenmamas“ beschäftigt und ihre Texte entsprechend geschrieben haben, die werden genau wissen, dass sie mit den Themen Fehlgeburt und ungewollter Kinderlosigkeit vor allem Menschen anziehen, die es bei dem Gedanken an Abtreibung im Moment schüttelt. Aber all das entbindet sie nicht der (leider nach wie vor hochaktuellen) Verantwortung, auch diesen Aspekt mit im Blick zu haben und diese sprachlichen Grenzen nicht zu verwischen.

Mich wurmt in den Diskussionen zu diesen Beiträgen sowohl ein Vermischen von Ebenen, dass nicht klar zu sein scheint, dass eine Zeitschrift andere Begriffe wählen muss als eine Privatperson, als auch die Verflachung der Erzählung. Dass also wieder mal die Fantasie fehlt, sich Widersprüche in einer Person zu denken. Ich kenne genug Menschen, die auf der persönlichen Ebene sehr intensiv um ein Kind trauern und auf einer politisch-theoretischen Ebene, zu der sie sich sicher manchmal zwingen müssen, damit einverstanden sind, dass ihre Frauenärztin Abtreibungen anbietet.

Und ich finde schwierig, dass diese Formulierung eine Hierarchie des Trauerns aufmacht – als ob ich nur dann legitim trauern dürfte und es nur dann wirklich schlimm ist, wenn tatsächlich ein „Baby“ gestorben ist. Ich kann aber genau so tief um ein Embryo trauern, um die Möglichkeit eines Kindes, oder auch darum, dass es ein Körper vielleicht „nicht mal so weit schafft“ und sich einfach nie etwas einnistet. Um all diesen Situationen gegenüber respektvoll zu sein, muss man diese Begriffe nicht durcheinanderwirbeln.

Hier ein paar Fundstücke zu Fehlgeburten, die ich mochte und die mich eine Weile gehalten haben.

Daniela Seel in Ich kann diese Stelle nicht wiederfinden

nie hielt ich dich / nicht als ich schlief / nicht als durch mich / und durch mich hindurch / ging tod / dein tod / und mich übrigließ

Berit Glanz in Splitterstücke

Ich möchte einen Text über meine tote Tochter schreiben, über meine Angst, über die Panikattacken, über die Trauer. Ich möchte die Dinge in eine Erzählung zwingen, einen Faden durch die Splitter ziehen, das unerträgliche Chaos auffädeln, das diese Zeit kennzeichnet. Aber die fragmentierte Erinnerung an meine Reise lässt sich nicht logisch an kluge Gedanken knüpfen, das Loch fügt sich nicht in ein erzähltes Leben, der Schmerz ergibt keinen Sinn. Es gibt kein glückliches Ende für diese Geschichte, bei dem mit der Erkenntnis alle Bruchstücke an einen Platz fallen, die Ordnung wiederhergestellt wird. Es ist ein Leben mit einem Loch und es ist ein gutes Leben.

Jessica Mack in Diary from the Bardo

So here I am, sword drawn, trying to make sense. Before my doctor’s visit, my reality was that I was pregnant with a tiny growing being. In a parallel reality I had not yet met, I was not. Now, I know that I’m not pregnant with a tiny growing being, yet I continue to be pregnant. The moment boils as it freezes. 

Daniela Jauk in Selbstbestimmt Fehlgebären

Die Krankenschwester nutzt einen Augenblick mit mir allein um meine Hand zu nehmen und sagt: „Der Patient (sic!) ist König. Sie können das ganz allein entscheiden wann und ob Sie eine Curettage machen, da kann Ihnen der Arzt nichts vorschreiben.“ Ich liebe diese Frau in dem Moment für ihre Warmherzigkeit, und die Türe die gerade aufgegangen ist. Aber auch krass und bezeichnend, dass es diese Heimlichkeit braucht.

Marie Zeisler in Noch eine kleine Geburt?

Irgendwie möchte ich von einer Fehlgeburt sprechen, und trotzdem beschleicht mich das Gefühl, das stünde mir nicht zu. Wir hatten ja noch nicht mal einen Herzschlag gesehen. Was da weg gegangen ist, war das ein Kind? Existierte das Kind nicht viel eher in unseren Köpfen, als Zukunftsversion, als in meinem Bauch? “You let somebody in, and you make room. And then they go – and yet – the room is still there.” (…) Die Reaktionen des Umfelds waren überwiegend warmherzig und mitfühlend. Und trotzdem mag ich noch immer nicht hören, “vielleicht besser so”, “wird schon seine Gründe haben” oder gar “everything happens for a reason”. Ich glaube manchmal stimmt das nicht. Ich glaube manchmal passieren einfach Dinge, die passieren, ohne Grund, so sehr man sich auch Mühe gibt einen hinein zu interpretieren. Und das ist ok so.

Ulrike Draesner in dem Zyklus bläuliche sphinx (metall) in für die nacht geheuerte zellen

sie spritzen dich mir
zwischen den beinen
aus, kind, blümchen,
“nackter strand”, je nachdem,
es spult sich ab,
in uns, wo “du”, strang
faser riß, als “lila licht”,
vielleicht, “dereinst”,
auf einem hügel sitzt,
“in diesen regionen”
pronomenlos
ein paar, unten, am strand
das dich wiederzeugt
während du
honigkugeln rollst
oder elektrizität oder gedanken
in der biene, in der spinne,
im lichtlosen see.

Halithas Bericht einer Fehlgeburt im Hebammenblog

Und mir fällt auf, dass ich es gar nicht richtig akzeptieren kann, ein Baby zu verlieren. Medizinisch betrachtet gab es keines und ich habe nie eines gesehen. Keinen Herzschlag. Nur diese unheimlich leere, schwarze Fruchthöhle. Ich denke an all die vielen Frauen, die lebendige, strampelnde, Fruchtwasser schluckende Babys verlieren, weil das Babyherz einfach aufhört zu schlagen. Wie schrecklich es sein muss. Und wie ich „nur“ um diese leere Blase in mir trauere … Mein Herz schmerzt, aber mein Kopf fragt kontinuierlich, warum ich mich so aufführe. Führe ich mich wirklich auf?

Julia Marsiglio in Carried, and Missed

It is sacred to give birth to death
and a first hello echoes
through the infinite when
it is simultaneously an end.

Tabea Xenia Magyar in dieser Textkette

ich gebar im traum ein kind, das war tot,
als es zur welt kam und affenähnlich,
das gesicht nach unten gewandt lag es
sehr flach auf der erde, ich weiss noch,
ich hatte schreckliche angst und es
fiel mir erst spät am tag wieder ein,
als ich ass, ich ass wurst, plötzlich fiel
mir das ein, ich wollte es wieder vergessen,
aber das kind blieb für den rest des tages
sah ich frauen und männer, sie trugen
vor der brust ihren sprössling,
es war kalt und die sprösslinge manchmal
vor schichten beinahe nicht sichtbar,
ich dachte wie wäre das, wenn sie andere
dinge da trügen, beschützt, einen bund
kirschzweige z.b. und wie ich jetzt schreibe
liegts mir wieder am brustkorb
als würde jemand mit zwei flachen händen
draufdrücken und hinter den ohren
fühle ich mich verletzlich.
ich wünschte ich könnte dir das erzählen
und lieber noch dass du mich wiegst,
dass wir das zusammen aufwiegen.


siehe auch autobiographisch Schreiben