Ich habe Horoskope geschrieben.

Es sind natürlich keine wirklichen Horoskope, das kann ich nicht, sondern Kompostoskope: Ich habe dir aus meinem Kompost des letzten Jahres ein bisschen Humus für dieses Jahr generiert.

Also Rückblick & Vorausschau in einem, und vor allem ein Spiel.

(Und sie kommen erst jetzt, weil das Jahr der Schlange ja erst nächste Woche beginnt, und ich mir diesen gnädigen Puffer des chinesischen Kalenders knallhart angeeignet habe, das westliche Jahr hat mir nämlich zu schnell begonnen.)

Hier:

Steinbock

Manchmal siehst du Meinungen wie Hunde an der Leine und bist einfach verwirrt, dass das geht, dass Menschen sie so fest und sicher vor sich hertragen. Deine nächtliche Unruhe ist ein Mini-Bardo der Gedankenströme, in dem sich zeigt: Es ist völlig in Ordnung, wenn Urteile flüssig bleiben wie Schwimmbewegungen im Wasser. Deine Fähigkeit, dich in verschiedene Perspektiven hineinzuversetzen, macht dich nicht zu einem schwachen Denki - im Gegenteil. Du erkennst die fehlenden Schritte in den Erzählungen anderer, die ausgelassenen Verflechtungen. Halte diesen Blick mit leichtem Griff, wie den Schlaf, der sich nicht erzwingen lässt.

Wassermann

Siehst du die Veränderung wie eine Brache, die verschwinden wird? Auch das Verschwinden selbst ist eine Form von Verwandlung. Du erkennst mehrere Bedeutungen gleichzeitig - medicine and poison - und das ist ein Freiheitswerkzeug. Wenn du Rezensionen zu Filmen liest, suchst du darin keine Autorität, sondern ein Erweitern deiner Sinne, ein Hineinspüren in weitere Möglichkeiten des Sehens. Du darfst dich verkleiden, du darfst als ein anderes gehen, darfst springen, tanzen, um die Binaritäten herumwirbeln wie ein Harlekin mit bemalter Hose und Hemd mit Bobbeln und einem riesigen riesigen losen wippendem Kragen.

Fische

Du packst die Skills in den Beutel und den Beutel nimmst du überall hin mit; null Meister, viel Beutel. Freiheit findest du in den unbewachten Containern, in der Nichtperformance des Vororts, wo alle ein bisschen spinnen und das voneinander wissen. Kein Kernfamilienbild wird dem gerecht, was du gerade machst. Deine Fröhlichkeit ist eine robuste Selbstansprache, ein Joooa zu allem, was kommt. Was, wenn du nichts veränderst? Was, wenn sich nichts verändert? Du gibst und erhältst, du übersetzt dich selbst, du webst und ergänzt, und um dich herum: so! viel! Welt!

Widder

Im Wimmelbild deines Alltags sind so viele Zeichen, die du nicht lesen kannst, und das hältst du aus. Deine Neugier auf das Unverständliche ist wie geschminkte Augen auf Augenlidern; immer wach sein, immer durch ein Lid durchschauen. Die weißen Flächen in deiner Wahrnehmung sind keine Leerstellen, sie sind wie diese abstrakten Bilder, man muss sich ja auch vorstellen, dass es das vorher einfach nicht gab. Du löst Knoten, die nicht gut halten, knüpfst sie neu und fester. Wo andere nach Zwillingen und Paaren suchen, nach Ordnungen in Zweierdenken, erkennst du die Wahllosigkeit der kuratorischen Zwangsbehälter. Du erklärst einen Ort zu deinem Wohnzimmer und fühlst dich seitdem wohler dort.

Stier

Deine Begegnungen sind wie Festivals der Möglichkeiten - ausgetauschte Ideen werden zu E-Mail-Adressen werden zu neuen Verbindungen. Du lernst gerade, von der Bühne her zu denken: Was macht dir dort Spaß? Kannst du den Blick anderer als Zugänglichkeitslinse nutzen? Wie kinderfreundlich ist dein Auftritt? Auch das ist eine Linse, durch die du die Welt betrachten kannst. Objekttheater wird zu belebtem, angewandtem, bewegtem Schmuck. Mit den einfachsten Mitteln denkst du in alle Richtungen, nimmst alles von überall her überall hin mit.

Zwillinge

Müde sein, genau jetzt, wie Butterbrot und kalter Matschpfirsich, wie ein Kind, das ins Salz niest und es rührt und rührt. In deinen Selbstbildfantasien findest du viel internalisierten Krempel, Instagram-Spuren, dieses Sich-doll-ernst-Nehmen. Aber eine Ikone zu sein ist nichts, was du anstrebst, ist überhaupt nicht dein Plan für dein weiteres Leben. Deine political beauty liegt woanders: in der Freude, alleine auf einer Veranstaltung zu sein, auf niemanden eingehen zu müssen, hier und da zuzuhören, hier und da hinzuschauen.

Krebs

Wie überlebt eine solch winzige Schnecke in dieser Welt? Du würdest sie auf deinem kleinen Fingernagel kaum sehen, und dein kleiner Fingernagel ist bereits ziemlich klein. So fühlst du dich manchmal, wenn du gelesen wirst; diese Passivität, diese Ausgesetztheit, als geschähe dir etwas. Es gibt Blicke, die du nicht auf dir haben willst, Menschen, für die du nicht sichtbar sein möchtest. Deine Antwort darauf: Jetzt erstmal aus dem Fenster schauen. Die Welt anschauen, statt angeschaut zu werden.

Löwe

Der orangene weiche Mond über der Brachfläche, fast voll - Zauber muss man festhalten, oder? Muss man wirklich? Vielleicht liegt deine Magie gerade in den Momenten, die sich nicht festkleben lassen wie Zaubernägel auf Fingern. Der Zauber ist so oft Sprache, aber Sprache im Moment, Sprache, die zwischen zwei Augenpaaren stattfindet. Statt Menschen nervig zu finden, lernst du aus ihren Dialogen, ihrer Echtheit: Alle zeigen so viel von sich. Es gibt kein Dazugehören im Richtig-Sein, denn Richtig-Sein ist nur eine weitere Form der Einengung; wer spinnt, hat mehr vom Leben.

Jungfrau

Geh so durch die Welt, als sei jeder Boden heilig - du lernst gerade, mehr Freude im Moment zu haben. Mit der gleichen Hingabe, mit der du Menschen in ihren Werkstätten beim Tüfteln zusiehst, betrachtest du dein eigenes Tun. Diese tiefe Zufriedenheit, wenn etwas genau passt! Wie schön aber auch, wenn du eine idee ausprobierst, die nur halb klappt und du es dann ganz anders versuchst, oder ein bisschen angepasst, genau so ist es ja immer in einer Werkstatt. Und manchmal, in Bus und Badewanne, kippst du einfach weg - das kommt aus deiner müden Tiefe, und auch das gehört zu dir.

Waage

Dein Körper ist kein Projekt mehr, nur noch Prozess. Schwimmen, weil SCHWIMMEN. Handstand, weil kopfüber. In deinem Schreiben suchst du nach der ersten Wahrheit. Die privaten sind vielleicht die wichtigsten Erzählanlässe, die, die privat bleiben und trotzdem in die Welt wirken werden. Du fragst dich, ob es überhaupt einander entgegengesetzte Eigenschaften gibt, oder ob nicht das Konzept von Gegensätzen in sich schief und wacklig ist, eines dieser klapprigen Gerüste, die das Licht versperren. An manchen Tagen schenkst du dir unverabredete Zeit, goldenes Wetter, und du übst alles, denn man muss alles üben.

Skorpion

Es geht um den fließenden Wechsel zwischen Spannung und Entspannung. Eine Grundspannung, ja, aber keine überflüssige in den Muskeln, die gerade nicht gefragt sind. Manchmal willst du einfach nur im Flow sein, ohne Training und Übungen, weil es dein HOBBY ist, weil du es zum SPASS machst. Wie früher die Kräuter auf dem Holzboden ihren Duft verströmten, so sammelst du kleine Zeichen: eine Taube, die direkt vor dir vom Himmel fällt, eine Haarklammer in der Form einer Ente, die bereits im Kino war, ein tröstendes Stoffküken.

Schütze

Dies ist die Zeit. Und dies ist die Aufzeichnung der Zeit. Du schreibst und schreibst, als wäre das Schreiben selbst eine Rettung. Die Momente sammeln sich wie Krümel in einer Jackentasche, manche zerbröseln gleich wieder, andere bleiben hartnäckig hängen. Deine Aufgabe ist das Bezeugen: Wie die Menschen um dich herum aufblühen, ihre eigenen absurden kleinen Tänze tanzen. Nicht eingreifen, nicht zur Kümmerer-Maschine werden, nicht sofort ein Projekt draus machen wollen, einfach weiter aufschreiben. Manchmal leuchten die Krümel noch nachts, manchmal vergisst du sie beim Waschen, beides ist genau richtig.

Die Idee zu diesen Übergangsboten kam vom Freundi Ka, das uns an Silvester selbstorakelte Horoskope mitgebracht hat: Das Freundi hatte fünf Bücher ausgesucht, hat dann jeweils an uns gedacht, pro Buch random eine Stelle aufgeblättert, einen Satz oder Satzteil übernommen und die dann zusammen gefügt. Das für jedes von uns, und es kamen so gute Sachen dabei raus, Gedichte eigentlich eher, die überraschend passend und toll und rätselhaft sind. (Das natürlich auch einfach die Power von Wahrsagerei.)

Ich habe das Vorgehen für diesen Brief so umgewandelt, dass ich mir pro Tierkreiszeichen ein zufälliges Datum habe generieren lassen, und den Text, den ich an diesem Tag im Kompost veröffentlicht hatte, als Rohtext für die Horoskop-Version verwendet habe.

Die Horoskop-Version habe ich dann in Zusammenarbeit mit meinem neuem Roboti-Freundi (aka einer sogenannten künstlichen Intelligenz) erstellt, denn das macht mir zurzeit extrem viel Freude. Außerdem halte ich im September in unserer Herbst-Schreibwoche einen Workshop zum kreativen Schreiben mit KI, und führe dafür gerade Langzeitexperimente mit mir und meinen Texten durch.

Der Kompost selber ist nun tatsächlich abgeschlossen, du findest ihn aber weiterhin hier zum Nachlesen. Und hier auf Instagram habe ich zum Abschied einen Bonuseintrag aus dem windigen ersten Tag danach veröffentlicht.

Meine Kompostierpraxis besteht weiterhin, denn diesen Prozess, mit meinen Notizen vom Vortag weiter zu arbeiten, wollte ich keinesfalls wieder aufgeben. Die Praxis bekommt gerade eine neue Form und wird auch wieder teil-öffentliche Elemente enthalten, die schicke ich dann sicher auch mal rum. 

Zu dem Prozess und der neuen Praxis selber werde ich nächste Woche noch mehr teilen, und zwar in dem Workshop zu Schreibwerkzeugen und -behältern, den ich in der Januar-Schreibwoche mit Kathrin Bach halten werde – komm sehr gerne noch dazu, es wird so eine schöne und spannende Runde!

Bis dahin, bald mehr
Ricardas