Hier ist ein Reisetagebuch. Es ist ein altes Reisetagebuch meiner Großmutter, drei Blatt Karton mittig gefaltet und mit einem selber geschnittenen Band zusammengebunden. Die meisten Fotos darin wurden entfernt, von meiner Mutter oder meiner Tante vermutlich, um sie in ein anderes Album einzufügen. Jetzt sind noch ein paar Restfotos der großmütterlichen Reise mit ihrer Freundin darin, Landschaftsaufnahmen aus dem Tessin, Blüten, vorne drauf ein Farn.
Ich nehme das Heft mit auf eine kleine Reise mit der Freundin und dem Kind zu der anderen Freundin, das Kind kritzelt abends auf die Seiten, stempelt vielfach das Datum und wir kleben die Polaroid-Fotos des jeweiligen Tages ein. Wir am See, Freundin auf Traktor, ein Teller Pommes, Lachen und Sonnenbrillen. Mit Kind tut man so, als könnte das alles ewig so weitergehen, und das tut gut.
Es ist ein Reisetagebuch mit Rotzfahne, denn nach beinah jeder Reise bin ich erstmal krank. Nun also erkältet, das ist nervig und könnte mir etwas beibringen, wenn ich mich daran erinnern würde.
Hier ist ein Durcheinander. Hier ist ein lautes Surren in meinem Kopf. Ich bekomme eine unverlangte Mail mit dem erstaunlich guten Betreff Hasse nasse Briefe.
Hier sind verwandte Formen der möglichen Reaktionen aus dem letzten Brief, falls du Bedarf an Beuteln hast, in die du deine Zeit aufteilen willst, oder Bedarf hast an einem Beutel voller Möglichkeiten, deine Zeit einzusetzen:
Marlee Grace spricht von research, retreat, reporting. Also forschen (tun, bezeugen), zurückziehen (nicht tun, erholen), berichten (tun, teilen, abwandeln).
Helena Liu spricht von reading time, wild idling time, tiger time. Also Zeit zum Lesen (tun, bezeugen), Zeit zum Trödeln und Spielen (nicht tun, erholen), Zeit zum Konzentrieren und Arbeiten (tun, teilen, abwandeln).
Forschen und lesen heißt beobachten, heißt staunen, ist Erinnerung an das, was ist und was war, ist Geschichte, ist der Ort, an dem du lebst, sind die Menschen, die davor dort lebten, ist die Geschichte deiner Arbeit, sind die Geflechte, in die du eingewoben bist, somit Erinnerung daran, wer du bist.
Zurückziehen und trödeln und spielen ist der Faden zu dir, ist die Mitte, ist das Herz der Sache, sind die Reisetagebücher. Ist nicht Input aufnehmen, sondern sich an sich selber satt essen.
Berichten und arbeiten, also teilen, ist das Weiterweben an dem Geflecht, an deinem Teil des Stoffs.
Hier sind Fragen: Was erforschst du gerade? Wie liest du? Warum liest du? Was beobachtest du?
Hier ist meine Antwort: Ich beobachte Greifvögel, lebendige draußen und verschriftlicht die unterschiedlichen Charaktere von einzelnen Vögel (Mabel aus H wie Habicht) und die zugeschriebenen Charaktere von ganzen Gattungen (Rotmilane, die anscheinend gerne im Flug Koniferenzapfen abbrechen, um sie einfach nur fallen zu lassen, die also spielen). Die erschreckende Empathielosigkeit der deutschen Feuilletonfutzies. Die grandiose Freude des Jüdischen Anarchismus. Das Schmittajahr, dessen Sinn es ist, nicht das Letzte herauszuholen – aus den Ressourcen der Erde nicht, aus dem Kapital nicht, aus der Arbeitskraft der Anderen nicht und aus der eigenen auch nicht. Ruhen lassen, vergeben. Meine neue Sehnsucht nach gemeinschaftlichen Ritualen. Windgefällte Bäume und was mit ihnen passiert, wie lange die Feuerwehrbänder flattern, wer das Holz bekommt. Wie ich meine Texte kürzen kann. Wie ich meinen Alltag weiter vereinfachen kann. Krankheit und Gesundheit, und inwieweit die beiden wirklich ein binäres Paar sind. Schreiben als Werkzeug, als Tagebuch, als Gedicht, als digitaler Garten. Kulturelle Aneignung. Nähen von Hand. Weiterhin Pilze, ihre Sporen und ihre Verflechtungen. Queerness. Business. Die Fragwürdigkeit des Demoverbotes und absurde Unverhältnismäßigkeit des riesigen Polizei-Einsatzes letztes Wochenende in Leipzig (und warum kaum jemand darüber berichtet). Orte und ihre Geschichte, dass nicht alles überall stattfinden kann. Tanzen als Denken und Fühlen.
Wie alles kreuz und quer geht und sich doch wieder findet.