Kulturelle Aneignung
Kulturelle Aneignung bedeutet für mich, dass weiße Menschen ohne Erlaubnis etwas aus einer Kultur übernehmen, die von weißen Menschen ausgebeutet wurde oder es weiterhin wird, und sich dadurch einen Vorteil verschaffen, zum Beispiel auf finanzieller oder emotionaler Ebene oder in ihrem Status, ohne diesen Vorteil zurück an die ursprüngliche Kultur zu geben.
Es gibt endlos viele Beispiele dafür, manche sind besser greifbar als andere, über alle lohnt es sich nachzudenken.
„It’s not about “ownership.” That smudge stick represents the deep pain, sacrifice, resistance, and refusal of Native peoples. It represents a continuing legacy of marginalizing and punishing Native spirituality. So when our religious practices are mocked through these products, or folks are commodifying and making money off our ceremonies it’s not about who has the “right” to buy or sell. It’s about power. (…) All of this is to say: find out what your own ancestors may have burned for cleansing, and use that. Unless you’re Native, it probably wasn’t white sage.“ – von Adrienne J. Keene auf ihrem Blog Native AppropriationsEin gut greifbares Beispiel ist das Räuchern mit Weißem Salbei, wie es in vielen indigenen Kulturen in Amerika im Rahmen bestimmter Zeremonien gemacht wird. Diese Pflanze wächst vor allem im Südwesten der USA und wird dort von Angehörigen bestimmter indigener Völker auf traditionelle Art gesammelt, wobei der Prozess des Sammelns bereits zum Ritual gehört. Seitdem das Räuchern mit Weißem Salbei aber zum Trend unter nicht-indigenen Menschen wurde, wird der Bestand an dieser Pflanze knapp und sie wird immer wieder in großen Mengen illegal und nicht nachhaltig gesammelt und online weltweit weiterverkauft.
Problematisch finde ich daran die Aneignung eines Rituals, das weiße Menschen nicht kennen und nicht zu ihrer Kultur gehört (also ein geklauter emotionaler Vorteil) und das Verkaufen von gestohlenen Pflanzen (also ein finanzieller Vorteil). Dann kommt noch durch die Verknappung des Bestands eine weitere konkrete Schädigung für diejenigen hinzu, zu deren Kultur das Ritual eigentlich gehört.
Der ganze Vorgang ist besonders sinnlos, wenn man überlegt, wie viele weitere Pflanzen sich gut räuchern lassen. Fast jede Kultur und jede Gegend hat Pflanzen, die dort traditionell verräuchert werden, die man sich wild pflücken, also von der Erde schenken lassen und dann in einem eigenen Ritual räuchern kann, ohne sich irgendetwas klauen oder jemanden verletzen zu müssen.
Auch dieses Thema ist im Kern eine Respektfrage: Wie wichtig ist es mir, dass ich anderen Menschen keinen Schaden zufüge?
Diese Absätze habe ich in ähnlicher Form als Antwort auf Mona Knorrs Notiz über kulturelle Aneignung geschriebenWas ich in den (oft sehr hitzigen) Diskussionen rund um kulturelle Aneignung hilfreich finde, ist selber ohne großes Drama und ohne Schuldzuschreibung zu erläutern, wo und wie ich meine eigene Haltung geändert habe über die Zeit. Also ein Vorleben dessen, dass wir keine fixierten, starren Einheiten sind, sondern eben Menschen, die Sachen neu aufnehmen und lernen und begreifen können, die mal was falsch machen aber deshalb nicht falsch sind.
Ich (eine weiße Person) hatte zum Beispiel als Teenager Dreadlocks – das würde ich heute nicht mehr machen, da ich inzwischen begriffen habe, was für eine blutige Geschichte bestimmte Frisuren haben.
„This essay isn’t actually about yoga. It’s about the better questions we have to ask ourselves as white people if we actually want to interrupt the status quo. It’s about the ways we’re being called to divest from the systems that privilege us. It’s about imagining a future where we can see clearly that what’s truly in our own self-interest is to work for the liberation of all people, especially when it seems that it’s at our own expense. (…) When white people can have honest conversations about what we must relinquish, what we must give back that was never ours to take, we may finally begin to move in the direction of true liberation. Because no matter how you spin it, there’s no liberation in cultural appropriation.“ – Bear Hébert in diesem Essay, der mich massiv beeindruckt und geprägt hatOder, Achtung, noch viel umstritteneres Thema: Ich habe inzwischen für mich beschlossen, dass ich eigentlich kein Yoga mehr praktizieren will. Unter anderem deshalb, weil ich nicht die Kapazität habe, mich in angemessener Tiefe mit den kulturellen und religiösen Wurzeln dieser spirituellen Praxis zu beschäftigen. (Und ich tue es doch manchmal noch, wenn auch nur noch bei wenigen Lehrer:innen, ich biete sogar auf einem Yoga Retreat einen Schreibworkshop an, aber ich reibe mich dabei an so vielem.)
Ich würde gerne diese Diskussion verschieben von einem „Verzicht“ Gedanken hin zu einem „Ah, das macht auch Türen auf“.
Beim Beispiel vom Yoga könnten folgende Fragen aufkommen: Okay, woran genau hänge ich beim Yoga? Wie kann ich mich denn noch bewegen? Wie würde das selbstbestimmt und in meiner Sprache klingen? Wie kann ich mich sonst mit den Menschen verknüpfen, die mir wichtig sind? Was kann ich sonst tun, was mir Ruhe gibt und Freude? Reichen lange Spaziergänge alleine vielleicht manchmal aus? Kann ich ein freies, improvisierendes Tanzen zu meiner Lieblingsmusik vielleicht als spirituelle Praxis leben? Und so weiter.
Ganz ähnlich mit Schwitzhüttenzeremonien oder Faschingskostümen oder Sticktechniken oder eben den Kräutern zum Räuchern – der Raum, der entsteht, wenn wir aus Respekt vor anderen freiwillig auf etwas verzichten oder uns anders und deutlich tiefer damit befassen, kann auch Raum machen zum Entdecken, was in uns und um uns ist und wir vielleicht bisher nicht so klar wahrgenommen haben.