Narrative Identität

Diese Workshopreihe ist Teil des Wow & Fance Conscious Writing Labs und wurde initiiert von Nitay Feigenbaum. Er formulierte folgende Intention dafür: „Wir möchten die Selbstverständlichkeiten unserer Erzählungen genauer betrachten, Dramaturgien nach unserer Lebensrealität modellieren statt umgekehrt, Raum für Widersprüche und Ungleichgewicht ausloten und neue Formen von bewusstem Storytelling entwickeln.Diese Notiz entsteht im Kontext einer Workshopreihe zum Thema Narrative Identity, und ich will hier Ideen, Fragen, Überlegungen und Zitate aus dem Workshop sammeln und weiterdenken.

Nitay fasst den Grundgedanken von Narrativer Identität in etwa so zusammen: Menschen haben keinen Zugang zu einem „wahren“ und fixen Selbst, sondern sie konstruieren ihr Bild von sich mit Hilfe von Erzählungen, die ihnen Einheit und Zweck und Sinn geben. Menschen betrachten ihr Leben also als Reihe von Ereignissen, die sie zu diesem Moment gebracht haben, mit sich selbst als Hauptfigur. Die Antwort auf die Frage, wer ich bin, ist eine sich ständig wandelnde Geschichte.

Jerome Bruner in The narrative Creation of Self

(…) there is no such thing as an intuitively obvious and essential self to know, one that just sits there ready to be portrayed in words. Rather, we constantly construct and reconstruct our selves to meet the needs of the situations we encounter, and we do so with the guidance of our memories of the past and our hopes and fears for the future. Telling oneself about oneself is like making up a story about who and what we are, what’s happened, and why we’re doing what we’re doing.

It’s not that we have to make up these stories from scratch each time. Our self-making stories accumulate over time, even pattern themselves on conventional genres. They get out-of-date, and not just because we grow older or wiser but also because our self-making stories need to fit new circumstances, new friends, new enterprises. Our very memories fall victim to our self-making stories. It is not that I can no longer tell you (or myself) the „original true story“ about my desolation in the bleak summer after my father died. Rather, I would be telling you (or myself) a new story about a twelve-year-old „once upon a time.“ And I could tell it severaly ways, all of them shaped as much by my life since then as by the circumstances of that long-ago summer.

Unsere Identität ist in diesem Blickwinkel somit eng verbunden mit dem Prozess des Erinnerns, der Kuration der Erinnerungen, die im Moment für uns Sinn machen oder uns Fragen mitgeben, die wir mit dem Jetzt und der Zukunft verknüpfen können.

Anne Brannys in Eine Enzyklopädie des Zarten

Indem wir das Neue, das uns widerfährt, mit den Erinnerungen, die aufgrund von Wahrnehmung entstanden sind, abgleichen, das Neue das Vergangene stimuliert, das Vergangene das Neue deutet, entstehen Kombinationen, die sowohl die neue Erfahrung als auch die erinnerte verändern. Insofern greifen Gedächtnis und Gegenwart ineinander, bedingen einander.

Fragen aus der Einladung zu dem Workshop

Wenn wir uns also unsere Identität immer und immer wieder aufs Neue als Erzählung konstruieren, welche Dramaturgien legen wir ihnen zugrunde? Wie sind sie geprägt von den gängigen Narrativen und Erzählmustern, denen wir überall begegnen? Welche Erwartungen setzen teleologische Spannungsplots mit ihren klaren Höhepunkten und den Auflösungen in ein permanentes Gleichgewicht? Wie beeinflussen mich Heldenreisen mit ihren transgressiven Protagonist:innen und kompromisslosen Konfliktlösungen in meinen Beziehungen? Welche Auswirkung hat die überhöhte Agency einzelner Hauptfiguren auf mein Kooperationsvermögen?

Fragen und Zitate zu den Held:innen-Strukturen

Das Heroische „kaputtzudenken“ bedeutet in diesem Sinne, Heroisierungen als Anrufungen zu begrifen, mit denen Menschen dazu gebracht werden und sich selbst dazu bringen sollen, Außerordentliches zu leisten, Hierarchien anzuerkennen, das Soziale als fortwährenden Kampf zu denken und ihr eigenes Glück zugunsten höherer Ziele hintanzustellen. Die Wirkmacht dieser Aufrufungen beruht nicht zuletzt auf der Faszinationskraft heroischer Narrative. Es sind die ebenso bewegenden wie spannenden Geschichten, die uns veranlassen, die Helden und Heldinnen aufs Podest zu erheben, es ihnen nachtun zu wollen oder es uns in ihrem Glanze bequem zu machen. Das Heroische „kaputtzudenken“ heißt deshalb immer auch, andere Geschichten zu erzählen und die Geschichten anders zu erzählen.“ – aus Postheorische Helden von Ulrich Bröckling; der Gedanke, das Heroische „kaputtzudenken“ ist von Immanuel WallersteinWarum denken wir so oft, dass wir – und / oder unsere literarischen Figuren – immer die Welt retten müssen, und am besten auch noch alleine? Dass wir eine Transformation durchleben und danach im Gleichgewicht sind?

Inwieweit wurden diese Rahmungen geprägt durch die Erzählungen, die am präsentesten sind, also meist lineare Held:innenreisen, in denen eine Person eine neue Welt betritt, Kämpfe durchsteht und als veränderte Person in ihre ursprüngliche Welt zurückkehrt?

Welche Verantwortung haben wir als Schreibende, uns von diesen Strukturen zu emanzipieren?

Selbst Problematisierungen des Heroischen laufen zudem Gefahr, noch im Gestus des Entzauberns jenes vertikale Weltbild fortzuschreiben, für das Helden und Heldinnen stehen. In diesem Sinne ist Jürgen Habermas’ Bemerkung, „dass sich, wo immer Helden verehrt werden, die Frage stellt, wer das braucht – und warum“, auch auf die soziologische Beschäftigung mit ihnen auszuweiten. Dasselbe gilt freilich auch für die These, wir lebten in postheroischen Zeiten. Sie nährt die Illusion einer befriedeten, nivellierten Gesellschaft, die keine Heroen benötigt und erschafft, weil sie individuelle Größe für Anmaßung hält, Konflikte kommunikativ kleinarbeitet und zu freiwilligem Opfer weder willens noch fähig ist. Auch hier ist zu fragen: Wer braucht das – und warum?“ – ebenfalls Ulrich BröcklingAn wen richtet sich mein Text? Für wen schreibe ich? Wer braucht das und warum?

Brauche ich eine gesunde Vorstellung meiner Selbst und meiner Grenzen und Entwicklung (eine lineare, kontiniuerliche Vorstellung) um eine Geschichte schreiben zu können?

Fragen und mögliche Ansätze zum Schreiben anderer Erzählungen

Können kollaborative Schreibverfahren, das Aufweichen von Einzelerfahrungen und das Einbringen von Mehrstimmigkeit, diese Schemata brechen?

Ist ein Text ohne Positionierung unehrlich? Braucht es eine klare Positionierung der schreibenden Person, damit eine Konfrontation mit der lesenden Person möglich ist, eine Zustimmung oder Ablehnung? Ist ein Text ohne Positionierung unehrlich, weil die Behauptung, da sei keiner, nicht wahr sein kann?

Wo bleibt der Körper? Wo bleibt alles, was nicht diese Erzählung ist? Was macht Trauma mit einem Ich und seinem Körper, seinen Erinnerungen?

Hier musste ich an die Frage von adrienne maree brown denken: Are you in the right relationship? – also nicht der Versuch, grundsätzlich „richtig“ zu sein und „richtig“ zu handeln, sondern sich auf die Welt beziehen, in einer stimmigen Beziehung zu sein mit der Welt um einen.Wenn die Erzählung zur Wahrheit wird, und die Erzählung je nach Situation eine andere ist und eine andere sein muss, wie kann man dann „sich selbst treu bleiben“?

Wie können wir diese (Nicht-)Beständigkeit literarisch abbilden? Beim Wachstumsprozess einer klassischen Heldenreise hat jede Veränderung und jede Erfahrung und jede Eigenschaft eine Bedeutung und einen Zweck. Eine alternative Möglichkeit wäre es, die mäandernden, echten, realistischen Bewegungen abzubilden, das vor und zurück und hin und her und all die Abbiegungen und Umwege, die einen nicht weiter bringen.

Könnte es auch eine Lösung sein, aufzuklären, dass Erzählungen nur Fiktion sind und dass die als solches nun mal verdichtet und vereinfacht ist, dass sie gar nicht der realen Welt entsprechen kann und soll?

Oder überschätzt diese Haltung die Fähigkeit von Menschen, ihren Intellekt und ihre Gefühle zu koppeln? Sprich: Wie dann mit der Scham umgehen, die unweigerlich zumindest unbewusst entsteht, wenn eine Person ihr eigenes Leben und Erleben nicht so sauber und stringent in eine klare, sinnstiftende Erzählung bringen kann?

Welche Bücher und Geschichten will ich selber lesen? Welche Erzählstrukturen machen mir Freude, befriedigen mich?

Welche Geschichten mit alternativer Erzählstruktur geben trotzdem den Leser:innen Spannung und Zufriedenheit (und nicht nur einen riesigen Stinkefinger?)

(Oder, wie Kathrin Bach es nannte: Die Schwierigkeiten eines Ichs im Text.)Wo ist der Boden stabil genug, um von dort schreiben zu können?

Was, wenn genau diese Nicht-Beständigkeit uns Hoffnung und Möglichkeiten schafft? Alok Vaid-Menon schreibt hier:

Every sentence is haunted by the potential of what it could have been. But that haunting doesn’t have to be ominous or even tragic. It can also reek of potentiality. It reminds us that all words are ambidextrous, invites us to take the imperative to be absolute less seriously. Embrace the co-presences. That’s what I like about the genre of memoir. It makes explicit how we are constantly translating our reality into narrative, how many simultaneous narratives we could have made about the same moment, just how polyamorous truth is.


siehe auch Selbstmythisierung und autobiographisches Schreiben