Selbstfürsorge ist Arbeit
Ich mag an dem Begriff „Selbstfürsorge“, dass er nicht ganz so fluffig klingt wie das englische Self-Care.
Diese Vorstellung ist eine relativ frische Verzerrung, ursprünglich kommt der Begriff Self-Care aus dem medizinischen Bereich und wurde in den 70ern in den USA zu einem politischen Begriff von diskriminierten Gruppen (hauptsächlich Schwarze Menschen und nochmal besonders Schwarze Frauen), der eine nicht verhandelbare Basisfürsorge umschrieb, die diesen Menschen vom Staat aktiv verwehrt wurde.Bei Self-Care denke ich leider schnell an Schaumbäder mit Lavendel und eine schöne heiße Tasse Kräutertee, die Haare gehüllt in dickes weißes Frottee, das große Relaxen und Runterkommen und Beruhigen.
Selbstfürsorge klingt nach Arbeit, und das kommt der Realität viel näher.
Denn Selbstfürsorge heißt (für mich), die Arbeit zu machen, mich und meine eigenen Bedürfnisse zu kennen, und dann, meinen eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten entsprechend, zu versuchen, diese Bedürfnisse zu erfüllen.
„So let’s start by discarding any normative understanding of what it means to care for ourselves. (…)This is not just a postmodern platitude (“different strokes for different folks”), but a question of what relationship we establish to our challenges and our anguish. (…) Ideally, care would encompass and transcend both struggle and recovery, tearing down the boundaries that partition them.“ – aus Self as Other - Reflections on Self-Care von Corina DrossWenn wir für uns sorgen, bedeutet das also nicht immer, dass wir uns beruhigen müssen. Manchmal sorgen wir für uns, indem wir heulen, schreien, zittern, wüten, Hetzschriften schreiben, Menschen anbrüllen, die uns verletzt haben.
Wenn wir für uns sorgen, muss das nicht von außen sichtbar sein. Manchmal sorgen wir für uns, indem wir Gedankenkreisen unterbrechen, indem wir hinfühlen, lesen, schreiben, nachdenken. Und andere Male sorgen wir für uns, indem wir ziellos umherklicken, gedankenlos Instagram durchscrollen.
Wenn wir für uns sorgen, muss das nicht immer „gesund“ aussehen. Manchmal sorgen wir für uns, indem wir rauchen und trinken und ganze Kekspackungen essen und Pillen schmeißen und Sachen spritzen und uns im Boxtraining die Knöchel blutig schlagen.
Wenn wir für uns sorgen, müssen wir nicht immer alleine für uns sorgen. Manchmal sorgen wir für uns, indem wir andere anrufen oder texten, indem wir mutig sind und sie zu uns bitten und ob sie vielleicht was zu essen mitbringen können, indem wir mit ihnen sprechen oder mit ihnen schweigen oder sie umarmen oder mit ihnen tanzen. Und andere Male sorgen wir für uns, wenn wir nicht drangehen und das Telefon stumm schalten.
Selbstfürsorge ist nicht per se „gut“ oder moralisch richtig, auch daran sollten wir uns gelegentlich erinnern. Jede Person hat andere Werkzeuge parat, für jede Person funktioniert ein Werkzeug mal und dann auch wieder nicht.
Für alle gilt: Sorgen ist immer auch Arbeit. Arbeit an und für uns ist auch Arbeit. Und nicht jede Person hat oder bekommt die Ressourcen, um diese Arbeit zu tun.
siehe auch Persönliche Autonome Zonen