Zeichnen
wieder zeichnen
Lynda Barry
“As kids we went to the page to find something, to have an experience. As adults we have it backwards. We think that we need to have an experience before we go to the page.”
Genau das: Früher habe ich gezeichnet, und es war ein Erlebnis. Im Zeichnen habe ich Geschichten, Orte, Wesen erfunden und gelebt, im Zeichnen war ich woanders (meist in einem Mäusebau), Zeichnen war Leben wie alles andere auch.
Wenn ich heute versuche zu zeichnen, versuche ich, etwas zu erreichen. Ich will eine Person sein, die zeichnet. Und scheitere, denn so und zur Zeit bin ich keine Person, die zeichnet.
Was vermutlich daran liegt, dass ich im Zeichnen selbst kein Erlebnis mehr habe.
Was ich so sehr vermisse.
Ich zeichne inzwischen wieder, unter anderem weil ich ein tägliches Zeichentagebuch führe.
Ich zeichne durch das Peinliche hindurch, durch die Scham, durch die falschen Perspektiven, durch die zu langen Arme und zu kurzen Oberkörper. Oder an ihnen vorbei, in einem anderen Boot.
Auch hier – on the page – beim Zeichnen und Schreiben und Collagieren, geht es um Intuition und das Auswählen und Nutzen der Werkzeuge dafür.
Und auch hier um die Erfahrung, um so etwas wie Präsenz und Ziellosigkeit und Unoptimierbarkeit: nicht zeichnen, um so oder so zu sein, sondern zeichnen, weil es Spaß macht.
Ich will auch diese Notizen mehr dafür verwenden: Nicht nur im Tippen denken, sondern mit der Hand.
siehe auch zeichnen lernen
Zeichnen lernen
Unterschiedliche Arten des zeichnerischen Sehens, und damit des zeichnerischen Lernens, und damit auch der gezeichneten Ergebnisse:
wie zum Beispiel Betty Edwards das in dem beliebten Klassiker Drawing on the right side of the brain anleitet (dort ergänzt um inzwischen widerlegte Theorien von rechten und linken Hirnhälften und wie man die eine ausschalte, um mehr in der anderen zu sein) Ich schaue das, was ich zeichnen will, genau an und nehme es dabei als Umrisse, Formen, Größenverhältnisse, Licht, Schatten und Farben wahr, die ich jeweils zeichnen kann, ohne dabei symbolische Abkürzungen zu nehmen – ich zeichne also kein ☻ für das Gesicht, sondern die tatsächlichen sichtbaren Eigenschaften des Gesichtes.
“Imagine that your pencil point is touching the model instead of the paper. Without taking your eyes off the model, wait until you are convinced that the pencil is touching that point on the model upon which your eyes are fastened. Then move your eye slowly along the contour of the model and move the pencil slowly along the paper.“ – Kimon Nicolaïdes in The Natural Way to DrawIch schaue das, was ich zeichnen will, genau an und verbinde mich damit mit allen Sinnen, docke mich an die Umrisse an und gebe sie an die Hand weiter, schaue also dabei nicht auf das Papier, sondern immer nur auf das, was ich zeichnen will.
Oder ich schaue gar nicht hin und zeichne ganz mit geschlossenen Augen. In beiden Fällen passieren oft Sachen, die ich selber nicht habe kommen sehen, die mich überraschen, es wird also zum Spiel.
„Now this plan of action is based on the use of simple forms that are already known and familiar to you, and which you can certainly draw. From these simple, known forms, we build other forms, which without some constructive plan would be too complicated to draw.“ – Andrew Loomis in Fun with a PencilIch schaue das, was ich zeichnen will, genau an und breche es mir in einzelne geometrische Formen herunter, die ich mir zur Orientierung skizziere und auf denen ich meine eigentlichen Linien aufbaue.
das sind Kas KunstpausenIch schaue genau hin, was eine andere Person zeichnet und zeichne es gleichzeitig mit (die andere Person „erzählt“ und ich „höre zu“).
Ich schaue in meinem Kopf an, was ich oder andere heute gemacht haben, oder etwas, was mich interessiert, und zeichne das aus der Erinnerung.
Ich schaue in meinem Kopf etwas an und zeichne das aus der Erinnerung mit geschlossenen Augen.
Ich erfinde etwas in meinem Kopf, schaue mir das so genau wie möglich an und zeichne es.
Ich schaue gar nichts an und zeichne das, was ich fühle.
siehe auch kopieren und wieder zeichnen
Zeichentagebuch
Ein Zeichentagebuch ist ein Heft und eine Aufgabe, aber vor allem ist es ein Ort, an dem ich zeichne, an dem also mein Zeichnen und Sehen passiert.
10. März 2023Ich habe einen neuen Ort angelegt, nach einigem Hin und Her, ob ich wirklich noch ein Notizbuch und noch eine Routine brauche, ob das nicht vor allem mehr Platz für schlechtes Gewissen schafft, aber nein, diese Elemente können sich ergänzen. Und ich will das doch endlich wirklich, ich will sehen üben und zeichnen üben und beides wirklich in meinen Alltag integrieren, und das versuche ich mit diesem Heft, angelehnt an Lynda Barrys Comp Books. Ihr handgeschriebenes Buch Making Comics habe ich heute mit Freude eingesogen, das dockt an so vieles an, was mich im Moment beschäftigt – die Fähigkeit, sich selber zu überraschen, das Bemerken und Festhalten von dem, was man bemerkt (noticing what you notice). This is not work, sagt eine glitzernde Wolke auf der ersten Seite meines Heftes, it’s a game, sagen die Finger, a place, a physical practice. Dort regelmäßig sein ist das Ziel. (Auch das soll ein Raum sein, der mich ehrlich hält.)
„The point of the daily diary exercise is not to record what you already know about what happened to you in the last 24 hours. Instead, it’s an invitation to the back of your mind to come forward and reveal to you the perishable images about the day you didn’t notice you noticed at all.“ – Lynda BarryBarry schlägt in ihren Kursen verschiedene Varianten des „Daily Drawing Diary“ vor. Die meisten enthalten auf der linken Seite des Heftes schnelle Notizen über den Tag, eine kurze Liste davon, was du getan, gesehen und gehört hast und eine Frage, die du dir zum Tag stellst. Auf die rechte Seite kommt eine schnelle Zeichnung, die einen der beschriebenen Momente zeigt, immer mit einer Figur in Ganzkörperansicht. Weil ihr völlig klar ist, dass das für die meisten Menschen am schwierigsten zu zeichnen ist und weil sich das aber nicht ändert, wenn wir es nicht üben.
Für Barry ist die Hauptfunktion des Zeichentagebuches, hinter unsere vordergründigen Gedanken zu schauen und zu sehen, was sich da noch befindet. Also sehen lernen, wieder in Bildern sehen lernen, und bemerken, was ich eigentlich gesehen habe.
11. März 2023Das klingt sehr einfach: zu sammeln, was ich heute getan, gesehen und gehört habe, also das zu sammeln, was mir davon am lebhaftesten im Gedächtnis geblieben ist, und da wird es schon ein bisschen schwer und ich stelle fest, dass große Teile eines Tages an mir vorbei rauschen, und dann versuche ich, einen dieser Momente als Szene zu zeichnen und begreife erst recht, was für ein BLINDER FISCH ich bin. Ich weiß nicht mal mehr, welche Farbe hatte die Mütze wirklich, war es überhaupt eine Mütze, wie war das Licht, wo endete die Straße, war da ein Gebäude? Gesten erinnere ich anscheinend länger und eher, Bewegungen bleiben hängen. Aber ein wirkliches inneres Bild habe ich offensichtlich kaum, oder es ist zu verschüttet, oder die Hand zu ungeübt und alles starrt sich gegenseitig an und weiß nicht weiter und will nicht weiter.
Okay. Aber das üben wir ja hier. Und es gibt offensichtlich mehr als genug zu üben, und es interessiert mich sehr. Und ich will-muss-will Figuren zeichnen üben, so komme ich ja nicht weiter, oder ich will-muss-will mehr erzählen wollen, dann geht es vielleicht auch.
Jedes meiner Hefte umfasst etwa einen Monat.
Im ersten Heft zeichne ich schnell und lose und strichig, oft fast verzweifelt, es kostet mich so viel Mühe, loszulegen, die Lücke zwischen nicht zeichnen und zeichnen zu überwinden. Ich binde die Menschen um mich mit ein, lasse sie auch aus ihrem Tag zeichnen, klebe ihre Zeichnungen manchmal zu meinen dazu. Zum Ende des ersten Heftes beginne ich, manche der Kuli-Zeichnungen zu kolorieren, mit Wasserfarben oder mit andersfarbigen Stiften.
Im zweiten Heft stelle ich mir zu Beginn die Fragen: Was will ich wahrnehmen? Was will ich verdrängen? Was sehe ich im Körper? Was zeigt sich nach und nach? Was bleibt neblig? Ab diesem Heft arbeite ich nicht mehr mit dem von Barry vorgeschlagenem Rahmen, in den man hineinzeichnen soll, sondern frei auf der ganzen rechten Seite. Ich koloriere immer mehr und im letzten Drittel zeichne ich sogar ein paar Mal nur mit Wasserfarben, ganz ohne Kuli-Strich, angeregt durch eine Zeichnung, die Ka mir schickte. Ich ärgere mich über meine niedlichen Zeichnungen, es sieht alles aus wie ein braves Kinderbuch, ich will, dass da was abgeht, mal schauen, wie ich heute Abend die Form suche. Auf den letzten Seiten dieses Heftes zeichne ich manches mit geschlossenen Augen.
In das dritte Heft notiere ich mir keine Fragen, sondern zeichne los, mal mit geschlossenen Augen und mal mit offenen. Ich fange an, mit manchen Zeichnungen die ganze Fläche der Seite zu füllen, und dann auch die ganze Seite zu kolorieren. Etwa ab der Hälfte zeichne ich fast nur noch mit Wasserfarben, es wird auch eher ein Malen, angeregt durch Brecht Evens Farbschichten mit den später darauf gezeichneten Details, und seine random Tupfer, die er sich auf das Blatt setzt, confusion to enjoy later.
In diesem Heft spüre ich zum ersten Mal richtige Vorfreude auf das abendliche Zeichnen. Vermutlich weil ich einen Modus entwickelt habe, weil ich mit einer Technik experimentieren will, weil ich das Gefühl habe, das gerade Bilder entstehen, die mich auch als Zeichnungen interessieren, nicht nur als Zeugnisse. Diese Freude macht alles etwas einfacher und gleichzeitig ist eigentlich die erste Phase spannender, in der sich alles in mir körperlich sträubte und ich trotzdem gezeichnet habe. Note to self: Nicht in lineare Fantasien verfallen. Ich will wieder in diese Anfangsphase zurück kommen können, ich will sie nicht hinter mir lassen.
Ein großes Thema bleibt für mich das Verhältnis zwischen dem Zeichentagebuch und meinem hauptsächlich schriftlichen anderen Tagebuch, das ich seit Jahrzehnten täglich führe. Das Zeichentagebuch löst es an manchen Tagen ab, an vielen Tagen sogar, offensichtlich erfüllt es einen ähnlichen Grundzweck der Verarbeitung und Einarbeitung. An anderen Tagen brauche ich das ausführliche schriftliche Tagebuch, das ich am Computer führe, parallel zu dem handgeschriebenen Zeichenheft.
11. April 2023Hier fehlt nichts, es ist alles drüben, in meinem greifbaren Heft, in meinem gezeichneten Buch, in dem, was ich durchblättern und zeigen kann, was mich morgens begrüßt auf der Fensterbank, was selber eine Körperlichkeit hat.
20. April 2023Gut auch dieser Ort, dieser fließende Auffangort, der, in den ich reintippen kann, wo es also viel schneller vom Kopf oder Bauch oder von dazwischen irgendwo in Worte hineinfließt, alles viel schneller eine Form findet als in dem Heft.
7. Mai 2023Und es sind natürlich doch ziemlich andere Modi, hier und in dem Zeichentagebuch. Dort übe ich das Sehen und Verknüpfen und Auswählen und Zeichnen und Stehenlassen, hier frage ich mich nochmal anders, was das für mich bedeutet, was ich empfinde und warum. Hier komme ich mit einer anderen Form von Dringlichkeit hin, mit dem Wunsch zu verstehen.
Hier ist auch Platz für anderen Quatsch. Für die Fragen danach, wie ich mich mit meinem Aussehen fühle – ah Moment, das ist natürlich auch sehr präsent, wenn ich mich selber zeichne. Ah Wurst, es kommt einfach da hin, wo es hin fällt, es taucht alles überall auf und ich darf mich wiederholen und immer das Gleiche sagen und schreiben, denn es ist ja eh nie gleich, ich kann recyclen und immer wieder zur Welt hinzufügen, was ich eben hinzufügen kann, mischen statt reinigen.
16. Mai 2023und es fehlt natürlich etwas, wenn ich kaum noch hier schreibe und nur noch meine notizen im zeichenheft mache – ich verwässere es auch dort, habe manchmal das bedürfnis, dort mehr rein zu packen als nur getan und gesehen und gehört, oder ich versuche anhand dieser kategorien mehr zu erzählen, was spannend ist und gut, aber nicht das gleiche wie hier
fehlt mir ein überblick? fehlt mir ein verknüpfen der einzelnen elemente, die ich sehe? fehlt mir ein fühlen?
Aber eigentlich fehlt natürlich nichts. Im Zeichenheft ist die Versuchung nur größer Alice Notley in dem Gedicht C. ’81to get at the poem of this.
Das Zeichenheft ist ein Objekt und enthält eine soziale Praxis. Ich trage es mit mir herum, ich zeige es Familie und Freund:innen, um ihnen von meinen letzten Wochen zu berichten, ich lasse sie mit zeichnen, sie zeigen mir ihre Notizbücher, sie sitzen neben mir, wenn ich abends eine Szene aus unserem gemeinsam verbrachten Tag zeichne, ich frage sie, was sie gesehen haben. Ein Tagebuch, das ich nach dem Abendessen am Küchentisch führen kann. Das dazu führt, dass überall Stifte und Farben und Wassergläschen und Pinsel herum liegen.
Mir ist klar, dass Barrys comic- und damit erzählzentrierte Aufgabenstellung, bei der ich im weitesten Sinne ja bleibe (eine Situation aus dem Tag zeichnerisch zu erzählen), mich erstmal in konkreten Zeichnungen hält, und mich damit nicht an die Art von abstrakter, rhythmischer Zeichnung führt, die mich auch sehr interessiert. Aber das lerne ich im Moment noch vom Patenkind, das allerdings auch schon erste Buchstaben zeichnet, erste Geschichten erzählen will, und auch diese verschiedenen Zeichenarten sind vermutlich gar nicht so streng voneinander abgetrennt wie mir das manchmal vorkommt.
Ich bewundere, wie präzise in Barrys Aufbau genau die Elemente enthalten sind, die jemand üben muss, um Geschichten zeichnen zu lernen. Klar ist die tägliche Zeichnung die „eigentliche“ Übung, aber die Liste davor gibt mir Material und Textur und Stimmung dafür, so dass ich nicht frei drauf los zeichne (was natürlich eine ganz eigene Qualität hat und ich manchmal vermisse, siehe oben), sondern etwas in mir verorten kann, was ich erzählen will.
Was hast du getan? – Eine nahe, manchmal körperliche Erinnerung an eine Handlung. Oft mache ich die Bewegung oder Haltung nochmal, die ich zeichnen will, um zu spüren wie sie geht, wie sie aussehen muss. Hier gehört für mich irgendwie auch hin: Was hast du gerochen? Was gefühlt? Was geschmeckt?
Was hast du gesehen? – Die anderen Protagonist:innen, menschlich oder mehr-als-menschlich, die Rahmenhandlung oder die Welt, die random Elemente, life. „The things (Beethoven’s music, movies, business firms) won’t exist unless I signify my interest in them by at least noting down their names. Nothing exists unless I maintain it (by my interest, or my potential interest). This is an ultimate, mostly subliminal anxiety. Hence, I must remain always, both in principle + actively, interested in everything. Taking all of knowledge as my province.“ – Susan Sontag in ihrem TagebuchWas ist für mich so interessant, dass ich es als „gesehen“ wahrnehme?
Weitere Fragen an dieser Stelle: Notiere ich hier auch Sachen, die ich in einem Bildschirm angeschaut oder gezeigt bekommen habe? Und macht es einen Unterschied, ob ich während des Tages in Häppchen notiere oder alles am Abend?
Das hat natürlich auch mit meinen nicht gemachten Bildern zu tun, die ich jahrelang nicht mehr gesammelt habe, und auf einmal tue ich es täglich.
Was hast du gehört? – Noch mehr Sinne, noch mehr Welt, in die eingebettet wird, die Absurdität aufgeschnappter Gesprächsfetzen. Eine andere Ebene, auf der ich den Tag kurz abklopfen kann. Das versuche ich mir oft schon während des Tages zu notieren, vor allem bei Dialogen anderer, um sie möglichst im Wortlaut behalten zu können.
Und das Ding mit der Frage. Eine Frage, die ich mir gestellt habe oder die sich mir aufgedrängt hat oder die ich mir stelle, wenn ich den Tag im Heft dann so betrachte. Hier komme ich am stärksten in Versuchung, alles zusammenbinden zu wollen, oder alles aufmachen zu wollen, hier suche ich Muster und the poem of this.
Alle Elemente dieser Übung stellen mir die Frage, wie sehr ich heute in der Welt präsent war.
Und damit liegt natürlich auch ein lyrisches Potenzial in diesem Bilderheft, das nicht nur aus Bildern besteht. In meinen Gedichten arbeite ich mit ganz ähnlichen Mitteln, versuche aus geschöpfter Sprache eine Stimmung (einen Tag) zu legen, abzubilden.
Meine Zeichnungen
(eine Auswahl)