Der Weg hier raus ist nicht binär.
Binär bedeutet zweiteilig: Es gibt zwei Elemente oder Positionen, die sich gegenüberstehen und sich gegenseitig ausschließen. 0, 1. An, aus. Weiblich, männlich. Gut, schlecht. Ein Kippschalter.
Nicht binär ist nicht ausschließlich das eine oder das andere. Eher ein Drehregler also. Etwas dazwischen, oder darüber oder darunter, mal mehr auf der einen Seite, mal an der anderen, oder alles gleichzeitig.
Weitere Selbstbezeichnungen sind non-binary, Enby oder genderqueer; es gibt aber auch spezifischere Geschlechter wie abinär, neutrois, androgyn, mixed-gender, genderfluid oder bigender, die ähnliche Gefühle und Identitäten ausdrücken, sich aber im Detail durchaus voneinander unterscheiden.Der Begriff nicht-binär ist außerdem eine der (Selbst-)Bezeichnungen für Menschen, die sich dem zweiteiligen Geschlechtersystem nicht zuordnen können oder wollen. (Wie ich zum Beispiel.)
Binarität ist geläufig für die meisten von uns, denn wir kennen oft nichts anderes, und es ist meist praktisch für Menschen, die Macht haben.
„Andere Kulturen wie z.B. in Thailand und Bolivien, die indigenen Völker Nordamerikas, aber auch die jüdischen Schriften (z.B. Androgynos, Ay’lonit, Saris, Tumtum) kennen bis zu zehn verschiedene Geschlechter.“ – 100% Mensch LexikonDas binäre Geschlechtsmodell zum Beispiel ist ein christliches Modell, das seit Jahrhunderten der Kirche, dem Patriarchat und dem Kapitalismus gute Dienste leistet.
In unserer komplexen, unsicheren Welt fühlt sich binäres Denken oft sicher und tröstlich an. Klare, eindeutige Positionen klingen stark und funktionieren gut auf Social Media, denn darauf ist der Algorithmus getrimmt. Nur wirklich akkurat sind sie nicht, denn die Zwischenbereiche, das Schwammige, das Uneindeutige, das Verknüpfte entsprechen der Komplexität unserer Realität deutlich besser.
Hiermit meine ich nicht, dass alle Menschen eine nicht-binäre Geschlechtsidentität haben. Diejenigen, die in sich mehr oder weniger deutlich spüren, dass sie dem binären Gendersystem nicht entsprechen, kostet dieser Erkenntnisprozess und der Umgang damit oft eine für Cis-Menschen nicht vorstellbare Menge an Zeit, Kraft und Energie. Diese immense emotionale Arbeit und die konkreten Gefahren, die die Nicht-Akzeptanz der Gesellschaft mit sich bringen können (verbildlicht zum Beispiel an der deutlich erhöhten Suizidrate unter queeren Menschen) will ich keinesfalls untergraben! Die Utopie, die ich hier skizziere, ist eine, in der diese Arbeit freudvoll und neugierig, im angstlosen Austausch mit anderen passieren kann, und in der es keine Gefahren für die Menschen gibt, die in sich hinein hören und dort etwas anderes finden als die Allgemeinheit.Ich bin davon überzeugt, dass wir im Kern alle nicht so binär denken und sind, wie es uns beigebracht wurde. So tief verwurzelt diese ausschließende Zweiteilung in uns ist, so sehr wir nichts anderes kennen, ich glaube daran, dass wir eigentlich alle deutlich plastischer sind, dass wir irgendwo auf einem Spektrum umherrutschen. Oder noch besser: In einem ganz freien Feld, eines, das nicht nur durch zwei Punkte definiert ist. Und manche sind ganz zufrieden an einem der bekannten Pole, und manche sind ganz zufrieden in ihrer Beweglichkeit, und manche sind ganz zufrieden an bisher namenlosen Orten – so würde ich mir das wünschen.
Diese Nicht-Binarität erstreckt sich in meiner Vorstellung auf alle Bereiche: Es gäbe kein männlich-weiblich, gesund-krank, arbeitend-arbeitslos, links-rechts, oben-unten, unschuldig-schuldig, Unkraut-Nutzpflanze, alt-jung, Mensch-Natur, echt-unecht, drinnen-draußen, Eltern-Nichteltern …
Bayo Akomolafe in When you meet the monster, anoint its feet
The middle I speak of is not halfway between two poles; it is a porousness that mocks the very idea of separation.
„To be non-binary is actually to inhabit the fullness of the world.“ – Kali Boehle-SilvaIch bin überzeugt, dass wir als Gesamtgesellschaft glücklicher und innerlich reicher wären, würden wir weniger binär denken. Könnten wir unseren Ort im Raum frei wählen, wäre es normal, zu benennen, wo man sich heute oder in dieser Phase gerade fühlt. Wenn nicht erwartet würde, dass wir uns einem von exakt zwei Lagern zuordnen, oder dass wir nur zwischen Pro und Contra entscheiden können, oder dass wir Fragen allgemeingültig beantworten müssten. Wenn sowohl-als-auch zur Regel würde.
„Always, to requests for generalizations, [the Nunamiut] say that each wolf is a little different, that new things are always seen. If someone says big males always lead the pack and do the killing, [they] shrug and say, ‘Maybe. Sometimes.’ – aus Of Wolves and Men von Barry Lopez, gefunden in dem Essay Tracking as a Way of Knowing von So Sinopoulos-LloydDas hieße weniger Klarheit, weniger Schubladen, und damit natürlich weniger Sicherheit im täglichen Umgang, ob „man gerade alles richtig macht“, und darüber „mit wem man es zu tun hat“.
„If we accept ourselves and each other as form-makers, we will no longer need to force forms on ourselves or each other.“ – Eugene T. GendlinDafür mehr Fantasie und Eigenbezeichnungen, mehr Neugier auf andere und wo und wie sie sich heute fühlen. Das hieße langsamer machen und mehr Wahrheiten akzeptieren. Mehr Augenkontakt suchen. Mehr Hinschauen und Hinfühlen. Und damit mehr Sicherheit für diejenigen vielen von uns, die nicht normgetreu sind und fühlen.